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Andreas Maier liest »Zehn Seiten«
aus seinem Roman »Die Straße«.
Andreas Maier schreibt ein Serial mit elf Bänden Umfang über seine Kindheit und Jugend in der hessischen Provinz, genauer Friedberg in der Wetterau. Über dieses Großprojekt sagte er selbst: "Ich denke einfach, dass ich daran bis zu meinem Lebensende schreiben werde. Erst lebt man vierzig Jahre, dann braucht man vierzig Jahre, um all das aufzuschreiben. Dann bin ich achtzig und darf sterben." Nach den Bänden „Das Zimmer“ und „Das Haus“ ist in diesem Jahr der dritte Teil, „Die Straße“, erschienen.
"Die Straße" spielt in den 70er und frühen 80er Jahren. Der Ich-Erzähler Andreas ist ein pubertierender Jugendlicher. Erzählt wird aus der Perspektive des Heranwachsenden, der das, was er an Sexualität um sich herum bemerkt, weder einzuordnen noch konkret zu benennen weiß. Ein Beispiel für die Naivität des Ich-Erzählers: In einer Fernsehsendung geht es um das Gestein Tuff. Fasziniert vom Klang wiederholt er dieses Wort immer wieder und spricht es rückwärts aus. Sehr zum Missfallen seiner Lehrerin, die seine Mutter einbestellt. Andreas ist sich keines Vergehens bewusst. Umso erstaunlicher für den Leser ist die Derbheit der Sprache, die von Zeit zu Zeit diese Erzählperspektive durchbricht.
Detailliert wird die Jagd einer Art Bürgerwehr auf einen Exhibitionisten beschrieben. Beteiligt sind ausgerechnet jene Väter, die Körperkontakt zu ihren Töchtern und vor allem zu deren Freundinnen suchen. Auf diese Weise deckt Maier die Heuchelei in der kleinbürgerlichen Provinzwelt auf.
Breiten Raum nehmen auch die ersten sexuellen Erfahrungen der älteren Schwester und deren Freundinnen ein. Seitenlang werden „Doktorspiele“ thematisiert. Die Jugendzeitschrift Bravo ist ein weiterer Meilenstein, was die Entdeckung der Sexualität angeht. Die Eltern sind sprachlos, Dr. Sommer ist es nicht: "So war die sprachliche Welt meiner Eltern ein ganzes Leben lang eine Welt ohne Beischlaf …“ Dabei wagt der Autor die These, dass die Bravo durch die Thematisierung von Petting und ähnlichem erst Wünsche bei den Heranwachsenden geweckt hat, die zuvor gar nicht vorhanden gewesen seien.
Auch die Passion der älteren Schwester für amerikanische Soldaten ist inhaltsprägend. Diese freut sich entsprechend auf den amerikanischen Austauschschüler John. Denn der ist der erste Amerikaner, der im Haus übernachtet. Sie wird aber herb enttäuscht, da John ein schwabbeliges „Riesenbaby“ ist.
Mit John nimmt der Roman eine dramatische Wendung. Handelte es sich zuvor um eine unterhaltsame Erzählung rund um das Thema Erwachsenwerden und Entdeckung der Sexualität in der kleinbürgerlichen Provinz, wird es nun bitterernst. Denn John wird in einer späteren Gastfamilie sexuell missbraucht. Erst da wird klar, was der Ich-Erzähler zu Beginn der Geschichte gemeint hat, als er von alten Männern, die in Hexenhäusern in der Altstadt wohnen, berichtete.
Fazit: Wer bereit ist, sich auf eine schonungslos offene und pessimistische Schilderung des Erwachsenwerdens in der kleinbürgerlichen und durchsexualisierten Provinz einzulassen, der sollte diesen Roman lesen.
Andreas Maier:
Die Straße
Suhrkamp Verlag, Berlin 201
194 Seiten
ISBN-10: 3518423959
ISBN-13: 978-3518423950
17,95 EURO
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