Snyder macht in seinem Buch deutlich, dass im gesamten Herrschaftsgebiet Deutschlands und der Sowjetunion gefoltert und gemordet wurde, aber genau hier, wo die beiden Diktaturen aufeinandertrafen, starben 14 Millionen Menschen (gemeint sind vorsätzlich getötete Zivilisten und Kriegsgefangene, nicht Soldaten, die aufgrund von Kriegshandlungen starben, oder zivile Bombenopfer) durch die akribisch organisierten Mordkampagnen der beiden Regime. In Berlin und Moskau wurden die Mordpläne entwickelt, in den Bloodlands wurden sie ausgeführt.
Detailliert schildert Snyder die Abfolge der Mordkampagnen. 1932/33 ließen die Sowjets Millionen Menschen bewusst verhungern. In Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft kam es in der Ukraine zu Missernten und Hunger. Da nicht das System die Ursache sein konnte, suchte man Sündenböcke. Kurzum wurden die hungernden Bauern zu Saboteuren und damit zu Staatsfeinden erklärt. Snyder schildert, wie verhungernde Bauernkinder in den Städten von der Polizei eingesammelt und zum Sterben eingesperrt wurden. Auch Kannibalismus war ein verbreitetes Phänomen. In der Zeit des Großen Terrors 1937/38 waren überwiegend Angehörige der ethnischen Minderheiten, vor allem Polen und Ukrainer, die Opfer.
Nach der Besetzung Osteuropas durch die deutsche Wehrmacht versuchten die Deutschen, den "Generalplan Ost" umzusetzen. Ziel war es, in den besetzten sowjetischen Gebieten über 30 Millionen Menschen durch Hunger zu vernichten. Da sich die Wehrmacht aus den besetzten Gebieten versorgte, wurde dieser Plan auch von der Wehrmachtsführung unterstützt. Die deutschen Eroberer behielten das System der Kolchosen aufrecht, um das Land besser ausplündern zu können. Das Getreide aus der Ukraine wurde nach Deutschland geschafft. Ganze sowjetische Städte wurden durch die Wehrmacht – nicht durch die SS - ausgehungert. Im belagerten Leningrad starben etwa eine Million Zivilisten. Zugleich ermordeten die Deutschen drei Millionen russische Kriegsgefangene – eine halbe Million durch Erschießungen, den Rest durch Hunger.
Von den 14 Millionen Ermordeten ließ man über die Hälfte vorsätzlich verhungern. Erschießen war die am zweithäufigsten angewandte Tötungsmethode, dann folgte das Vergasen. Auch von den fast sechs Millionen Opfern des Holocaust wurden ebenso viele erschossen wie vergast. Eine erschreckende Einsicht, da man mit dem Holocaust zumeist die Gaskammern in den Vernichtungslagern assoziiert. Als diese entstanden, war der Großteil der jüdischen Bevölkerung jedoch bereits ermordet.
Als der Blitzkrieg gegen die Sowjetunion scheiterte, suchten auch die Deutschen einen Sündenbock Und das waren entsprechend der rassistischen Ideologie die Menschen jüdischen Glaubens. Der Krieg, der an der Front verloren war, wurde nun als totaler Krieg zur Vernichtung der Juden geführt. Das war der Krieg, den die Wehrmacht, die SS und die Polizei noch zu gewinnen in der Lage waren. Der radikale Vernichtungswille der Deutschen gipfelte in den Todesfabriken der Vernichtungslager.
Snyder zeigt in Bloodlands die Gemeinsamkeiten der beiden Terrorregime auf: Unbedingter Wille zur Macht, ideologische Verblendung, gnadenlose Menschenverachtung bis hin zum vorsätzlichen Massenmord. Dabei relativiert er die monströsen deutschen Verbrechen in Osteuropa durch den Blick auf die sowjetischen Abscheulichkeiten nicht. Er zeigt jedoch, wozu Menschen in Diktaturen fähig sind. Zwei Drittel der 14 Millionen ermordeten Menschen wurden übrigens von den Deutschen umgebracht. Ein neuer Historikerstreit, wie in den 80er Jahren, um die Historisierung der nationalsozialistischen Verbrechen, wurde durch Bloodlands nicht ausgelöst. Denn Snyder beschreibt in erster Linie, wie es war. Er relativiert die Verbrechen nicht, indem er sie, wie Nolte, als Reaktion auf die Verbrechen der anderen Seite deutet. Und wenn er vergleicht, dann aus der Perspektive der Opfer. Über 100 Millionen Menschen lebten damals in den Bloodlands und erlebten Deutsche und Sowjets ... und verglichen aus ihren Erfahrungen heraus die beiden totalitären Regime.
Besonders das ungeheuerliche Leiden der Bevölkerung Polens wird ausführlich beschrieben. Polen waren bereits vor dem Krieg in der Ukraine und Weißrussland Opfer der sowjetischen Säuberungen. Dann teilten die Verbündeten Deutschland und Sowjetunion den polnischen Staat untereinander auf und brachten in ihren Herrschaftsbereichen die polnischen Eliten um. Nach dem Ghetto- und dem Warschauer Aufstand war die polnische Hauptstadt ein Trümmerfeld. Die westlichen Alliierten, die für Polen in den Krieg gezogen waren, lieferten schließlich Polen an die Sowjets aus.
Viele Bücher über die sowjetische und deutsche Diktatur sind bereits geschrieben worden. Doch so nachvollziehbar und bewegend habe ich noch in keiner Darstellung gelesen, wodurch es in Polen, Weißrussland und der Ukraine in den 30er und 40er Jahren zu diesen Gewaltexzessen kam und wie der Massenmord ablief. Snyder beschreibt dabei nicht nur das Gesamtgeschehen, sondern stellt hinter der Mordstatistik die schrecklichen Details dar, indem er immer wieder aus Quellen, wie Tagebüchern und Briefen, einzelne Menschen zu Wort kommen lässt. Aus Statistiken werden Menschen. So wird das Grauen nicht fass- aber greifbar.
Auch hat Snyder keine Scheu, Themen aufzugreifen, die heute noch tabuisiert sind. Er beschreibt, wie nach Kriegsende deutsche Zivilisten Opfer von Gewalt und Vertreibung wurden. Die umfangreiche Teilnahme der Bevölkerung der besetzten Gebiete am Holocaust wird ebenso nicht verschwiegen.
Der Untertitel von Bloodlands lautet „Europa zwischen Hitler und Stalin“. Ich habe bisher bewusst auf die Nennung dieser beiden Namen verzichtet. Hitler und Stalin waren für ihre Systeme prägend, aber ohne die aktive Teilnahme von Hunderttausenden und dem Wegschauen und der Billigung von Millionen hätten die beiden Diktatoren keinen Massenmord initiieren können. Auch das macht Snyder, der 2012 zusammen mit Ian Kershaw den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung bekommen hat, deutlich.
Ein lesenswertes Buch, für jeden, der wissen will, zu was Menschen fähig waren und sind.
Timothy Snyder
Bloodlands
528 Seiten
Deutscher Taschenbuch Verlag (1. März 2013)
ISBN-10: 3423347562
ISBN-13: 978-3423347563
EURO 14,90
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