Freitag, 15. Februar 2013

Wenn die Täter über die Wiedergutmachungsanträge ihrer Opfer entscheiden …

… dann passiert genau das, was Ursula Krechel in ihrem Roman "Landgericht“ beschreibt. Im Jahr 2012 erhielt die 64-jährige Autorin für diese ergreifende Schilderung der Emigration und Remigration den deutschen Buchpreis.

In der Jury-Begründung heißt es: „Ursula Krechel erzählt in ihrem Roman Landgericht die Lebensverwicklung des aus dem Exil zurückkehrenden Richters Richard Kornitzer. Er ist vom Glauben an Recht und Rechtsstaatlichkeit durchdrungen und zerbricht, als er in der Enge Nachkriegsdeutschlands den Kampf um die Wiederherstellung seiner Würde verliert. Die Sprache des Romans oszilliert zwischen Erzählung, Dokumentation, Essay und Analyse. Bald poetisch, bald lakonisch, zeichnet Krechel präzise ihr Bild der frühen Bundesrepublik – von der Architektur über die Lebensformen bis hinein in die Widersprüche der Familienpsychologie. Landgericht ist ein bewegender, politisch akuter, in seiner Anmutung bewundernswert kühler und moderner Roman.“  Eine sehr zutreffende Beschreibung, der ich nach der Lektüre nur zustimmen kann.
Im Mittelpunkt von „Landgericht“ steht Richard Kornitzer, der bis 1933 als Jurist beim Landgericht in Berlin tätig ist. Seine Frau Claire leitet eine Firma für Kinowerbung. Das perfide Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums beendet abrupt seine Kariere und zerstört seine Existenz. Von nun an arbeitet er als Prüfer in einer Glühbirnenfabrik. Claire weigert sich, sich von ihrem Mann, der den Nazis als „Volljude“ gilt,  scheiden zu lassen und verliert ihre Firma. Eindrucksvoll wird geschildert, wie Juden Schritt für Schritt ausgegrenzt werden. Auf den Entzug der wirtschaftlichen Existenz folgt das Verbot, Schwimmbäder zu besuchen, dann verbieten die Nürnberger Gesetze die Ehe zwischen Juden und Nicht-Juden.



Die Geschichte der Familie vor ihrer Trennung unter dem nationalsozialistischen Terror wird immer wieder in Rückblenden erzählt, ebenso wie die Geschichte des kubanischen Exils. Der Roman beginnt indes mit Richards Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1947. Die beiden Kinder, Selma und George, sind seit 1939 in Großbritannien und stehen kurz vor der Adoption durch die englische Pflegefamilie. Sie sprechen kaum noch deutsch. Intensiv schildert Ursula Krechel das Scheitern des Zusammenfindens der langjährig getrennten Familie. „Alle werden gerettet, aber gleichzeitig werden sie als Gestörte gerettet.“, sagt die Autorin dazu in einem Interview. Die Familie findet nie wieder zusammen.

Ein gebrochener Mann kommt zurück in ein ihm völlig fremdes Land, in welchem sich auch noch die schlimmsten Täter zu Opfern stilisieren. Zunächst muss er einen Behördenmarathon bewältigen, um seine Staatsbürgerschaft wieder zu erhalten. Richard Kornitzer wird schließlich als Landgerichtsrat an das Landgericht in Mainz berufen. Umgeben von alten Nazis muss er miterleben, wie die Opfer des Nazismus in der frühen Bundesrepublik eine Demütigung nach der anderen erfahren, wenn sie Wiedergutmachung und Gerechtigkeit einfordern. Die Ämter, besetzt von Aktivisten und Mitläufern des Naziregimes, üben sich in bürokratischen Verzögerungstaktiken. Das muss auch Richard Kornitzer erleben, als er sein dem „Reich verfallenes Vermögen“ zurückfordert und um eine angemessene Beförderung kämpft. Fast 100 Seiten widmet die Autorin diesem Kampf gegen Windmühlen, vollgepackt mit amtlichen Dokumenten.
Richard Kornitzer wird physisch krank, aber stets bleibt er äußerlich ruhig. Ursula Krechel erklärt dies im Interview folgendermaßen: „Es ist quasi eine Implosion des Helden. Was die Gerichte betrifft, seine Wiedergutmachungsklagen, läuft er öffentlich gegen Wände. Er schlägt sich die Stirn blutig. Aber was mit der Psyche passiert, ist eigentlich eine Art Verkapselung, Verinnerlichung, so dass er in einer Stille und Abgeschottetheit endet. Ich glaube, das ist nicht untypisch für das, was man heute "Überlebenden-Syndrom" nennt, also die Schuld des Überlebenden, die jemand Einzelnes fühlt. Dieses Trauma, diese Krankheit ist ja überhaupt erst Anfang der 1960er Jahre entdeckt worden. Die Leute waren äußerlich nach der Remigration einigermaßen integriert. Aber was in ihrem Innern vorging, das konnte man sich gar nicht vorstellen.“ 
Und wie sieht es mit der historischen Recherche und Realität aus? 
„Es schien mir unangemessen, über ein solches Thema zu fabulieren oder zu spekulieren. Ich erinnerte mich durch meine Arbeit über China-Emigranten in Shanghai daran, dass es notwendig war, von Realien auszugehen. Zum Fabulieren gibt es ganz andere Stoffe. In diesem Fall waren mir die Authentizität, die Genauigkeit sehr wichtig. Das Empfinden von Fremdheit und Ausgesetztheit, das dieser Mann erlebt, muss ich natürlich ausmalen und ihm eine Stimme geben“, sagt die Autorin zur Authentizität des Romans.
„Landgericht“ ist ein anrührendes, ein erschütterndes Buch. Es erfüllt einem mit Wut, wenn man zusieht, wie alte Nazis ihre Opfer ein zweites Mal demütigen. Es macht einem traurig, wenn man das Scheitern einer ganzen Familie miterleben muss. Es treibt einem die Schamesröte ins Gesicht, wenn man bedenkt, dass man im Land der Täter und Gleichgültigen lebt.

Manchmal ist „Landgericht“ aufgrund der zahlreichen Zitate aus Protokollen und anderen Dokumenten etwas schwer zu lesen. Und auch etwas zu ausufernd, wenn nicht nur deutsche Geschichte, sondern auch kubanische Geschichte gleich  mit erzählt wird. Die Beschränkung auf das Schicksal der Familie Kornitzer hätte dem Roman sicherlich gut getan.

Zusammenfassend ist es eine, trotz der genannten Einschränkungen, lesenswerte Abrechnung mit der Nachkriegszeit, die zwar etwas spät erfolgt, aber keineswegs überflüssig ist.

Krechel, Ursula
Landgericht
492 Seiten
Jung und Jung Oktober 2012
ISBN-10: 3990270249
ISBN-13: 978-3990270240
29,90 EURO


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