Die Bewohner der Straße können unterschiedlicher gar nicht sein, und Lanchester erzählt deren Geschichten gekonnt und spannend:
Da gibt es Roger Yount, einen Investmentbanker, seine verschwenderische und verwöhnte Frau Arabella und ihre beiden Kinder. Es geht um Bonuszahlungen, aufwendigen Lebensstil und eine lieblose Ehe. Das ungarische Kindermädchen der Younts, Matya, wird bald das Ziel der Begierde des Hausherrn. Der Leser lernt auch den polnischen Handwerker Zbigniew kennen. Dabei sind auch Matya und Zbigniew keine Nebenfiguren, sondern - wie alle Personen - Hauptakteure mit einem eigenen Schicksal.
Die Witwe Petunia Howe ist die älteste Bewohnerin der Pepys Road. Als sie an einem Gehirntumor erkrankt, wird sie von ihrer Tochter Mary gepflegt. Auch ihren Enkel, der unter dem Pseudonym Smitty als Aktionskünstler Erfolg hat, lernt der Leser kennen.
Ahmed Kamal betreibt einen kleinen Laden in der Pepys Road. Seine Brüder Shadid und Usman unterstützen ihn. Überzeugend stellt Lanchester anhand dieser Personen die Probleme der modernen, multikulturellen Gesellschaft dar. Mit den Augen von Migranten betrachtet erscheinen einige Grundstrukturen der westlichen Zivilisation durchaus fragwürdig.
Mickey Lipton-Miller, Manager eines Fußballclubs der Premier League, vermietet sein Haus in der Pepsy Road an Spieler seines Vereins. Freddy Kamo, ein senegalesisches Fußballwunder, wohnt in Lipton-Millers Haus. Der Leser wird Zeuge eines rasanten Aufstiegs und eines noch schnelleren Niedergangs.
In der Pepys Road verteilt die Politesse Quentina Strafzettel. Sie stammt aus Simbabwe und arbeitet als geduldete Asylbewerberin illegal unter falschem Namen.
Mit diesem Personal entwirft Lanchester ein tiefgründiges Gesellschaftsbild. Alle Figuren werden in ihren Motivationen ausführlich geschildert. Alle Figuren erleben ihre eigene, ganz besondere Geschichte. Der Roman hat mich sehr an Robert Altmans grandioses Filmkunstwerk „Short Cuts“ erinnert. Zahlreiche Episoden, die parallel ablaufen, Protagonisten, die einander flüchtig oder aber auch sehr intensiv begegnen, schicksalhafte Begegnungen ... Lanchester gelingt dabei ein einzigartiges Kunststück: Die Menschen und ihre Gefühle sind lebendig und "fühlen sich echt an", die zahlreichen Handlungsstränge bleiben überschaubar und jede einzelne Geschichte für sich genommen ist spannend.
WIR WOLLEN WAS IHR HABT, das ist, wie gesagt die Klammer. Dieser Satz steht auf Postkarten, die jeder einzelne Bewohner der Pepsy Road erhält. Nach diesem harmlosen Anfang folgen Video-DVDs, tote Vögel und Sachbeschädigungen. Die Polizei ermittelt in dem Fall.
Der Roman spielt in den Jahren 2007 bis 2008 und endet mit der Börsenkrise. Dabei geht es auch um ökonomische und politische Inhalte, im Vordergrund stehen allerdings die Protagonisten und deren Schicksale.
Ein äußerst lesenswerter, flüssig geschriebener Episodenroman.
Lanchester, John
Kapital
682 Seiten - gebundene Ausgabe
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
ISBN-10: 3608939857
ISBN-13: 978-3608939859
24,95 EURO
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