„Lustvoll geschwungene Bögen, von seidener Haut bespannt …“ – der Roman Tristan von Paul Sandmann beginnt manieristisch. Auch verwirrt die Erzählperspektive. Aber schon nach wenigen Seiten ändert sich die Sprache. Ein klarer und anschaulich beschreibender Erzählstil sowie nachvollziehbare Bilder treten die Vorherrschaft an. Nun wird auch klar, dass es sich eingangs um die intimsten Gedankengänge der Hauptfigur handelte und in der Folge ein auktorialer Erzähler dem Leser berichtet. Wenn die Hauptfigur über das Leben und die Liebe sinniert, wird die Sprache wieder manieristisch. D.h. der Autor setzt bewusst dieses Stilmittel ein, um die Innenperspektive der Hauptfigur kenntlich zu machen.
Der allwissende Erzähler wechselt gelegentlich die Perspektive und schildert Handlungen und Eindrücke aus der Sicht der Nebenfiguren, so dass wir auch die Wirkung des (Anti-)Helden auf andere Menschen kennenlernen. Und das ist auch schon das Hauptmotiv: Der Leser lernt Tristan kennen, in allen Lebenslagen, in allen sozialen Beziehungen.
Tristan ist ein gut aussehender Investmentbanker, der das Dolce Vita im zeitgenössischen London zelebriert. Er streift durch Clubs und Bars, nimmt Frauen mit in sein steril wirkendes Yuppie-Loft, und achtet dabei stets darauf, dass daraus nie eine dauerhafte Bindung wird. Doch dann treten zwei Frauen in sein Leben, und es ändert sich grundlegend.
Was ist das für ein Mensch, der mit Kollegen ausgeht, die er nicht mag? Ein Mann, dem das „oberflächliche Gerede über Frauen, Geld und Macht“ (S.30) unerträglich ist, der aber genau in dieser Welt des schönen Scheins unterwegs und auch zuhause ist? So zieht er beispielsweise mit seinem Freund Markus um die Häuser, und sie treffen sich mit magersüchtigen Models, obwohl Tristan weiblichere Formen bevorzugt. Aber da es das zeitgemäße Schönheitsideal ist, entscheidet er sich, „wohl oder übel mit dem [zu] arbeiten, was gerade en vogue war. Und, so leid es ihm tat, in diesem Jahrzehnt liebte die Welt Gesichter der Einsamkeit und des Hungers.“ (S.26)
Tristan hat die Einsicht, dass „Glück weder Geld noch Macht ist“ (S.78), begleitet aber unangenehme Kunden in Table-Dance-Bars, um gute Geschäfte abschließen zu können. Gleichzeitig träumt der Frauenverschleißer und Narzisst Tristan von der romantischen, ja ritterlichen Liebe. Die Hauptfigur erscheint zuweilen reflektiert, dann wieder dem Mainstream verhaftet und oberflächlich. Er ist ein Musterbeispiel innerer Zerrissenheit. Warum ist Tristan Investmentbanker geworden? „Er hatte geglaubt, dass er diese Macht für das gute nutzbar machen konnte.“ (S.185) Wenige Seiten später begegnet der gleiche Mensch einem früheren Freund, der sein Dasein als Penner fristet … und schlägt und beschimpft angewidert den „Verlierer“.
Als er Isabella Eco kennenlernt, stellt der Leser erstaunt fest, dass Tristan doch nicht der bindungsunfähige Frauenheld ist. Langsam, ganz behutsam nähert er sich der wunderschönen Isabella. Er verabredet sich mit ihr, unterhält sich mit ihr und genießt gemeinsame Abende in der Oper. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Beziehungen zu Frauen achtet er sie als Mensch und schätzt ihren Intellekt. Sie leben wochenlang zusammen, ohne miteinander zu schlafen. Als ihm Isabella ihr ganz persönliches Geheimnis offenbart, verstößt er sie abrupt. Bald tröstet er sich jedoch mit Ana, einer äußerst charmanten und sinnlichen Frau; in der Schönheit Isabella ebenbürtig, im Charakter und der Lebensauffassung das Gegenteil. Unter ihrer Führung wird der selbstverliebte und nur noch äußerlich schöne Tristan zum skrupellosen Finanzhai und zum Partykönig von London. Inzwischen hat er mit anderen Menschen so viel Mitgefühl wie eine Marmorstatue. Tristan, ein moderner Dorian Gray?
Die Darstellung von Tristans Person, besonders seine innere Zerrissenheit, und die Schilderung seiner Beziehungen sind spannend und sehr gelungen. Auch die Nebenfiguren sind sehr lebendig und interessant. Geht es um Tristans Alltag in der Bank, vervollständigt dies das Gesamtbild. Wird es aber "fundamentalistisch", d.h. werden Themen wie Bankenmacht, Globalisierung, Immobilienblase und -krise, Entwicklungspolitik, Klimaveränderungen etc. im Prinzipiellen von den handelnden Personen diskutiert, dann stockt der Erzählfluss. Auch die kurzen Episoden, in denen geschildert wird, wie ein us-amerikanischer Arbeiter, der sich ein Haus auf Kredit kauft , samt seiner Familie verelendet, stört m.E. die ansonsten gut lesbare und kohärente Geschichte. Es gelingt dem Autor an einigen wenigen Stellen nicht vollständig, den narzisstischen Entwicklungs-, den philosophischen Liebes- oder auch Beziehungs- sowie den Gesellschaftsroman mit politischem Anspruch im Gleichgewicht und Zusammenhang zu halten. Alles in allem ist Tristan ein bemerkenswerter Roman eines begabten Indieautors. Rund 240 Seiten, die ich in zwei Tagen gelesen habe!
(Lesen Sie am 27.1.13 das Interview, welches Bücher und eBooks mit Paul Sandmann, dem Autor des Tristan, geführt hat.)
Paul Sandmann
Tristan - Eine Chronik über den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts
Kindle Edition Dezember 2012
ca. 242 Seiten
2,99 EURO
Vielen Dank an Paul Sandmann für die Überlassung eines Rezensionsexemplars!
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