Nach „Sturz der Titanen“ hat Ken Follett nun den zweiten Teil seiner Saga über das 20. Jahrhundert vorgelegt. Gleich zu Anfang meine grundlegende Einschätzung: Ich habe die 1024 Seiten verschlungen, und es hätten noch 1000 Seiten mehr sein können ... So spannend und faszinierend waren die vielfältigen Handlungsstränge, so lebendig die zahlreichen Protagonisten.
Das Buch beginnt mit der Machtergreifung der Nazis 1933 und endet mit der Luftbrücke nach Berlin 1949. Das gesamte Personal aus „Sturz der Titanen“ begegnet dem Leser wieder: Ethel Williams (Leckwith), Maud Fitzgerald (von Ulrich), Gus Dewar und Grigori Peshkov. Sie spielen noch wichtige (Neben)Rollen, aber im Mittelpunkt stehen deren Kinder: Carla von Ulrich, Daisy Peshkov, Wolodja Peshkov, Greg Peshkov, Lloyd Williams, Chuck Deware und Woody Dewar. Die Orte der Handlung sind Deutschland, Spanien, Amerika, Großbritannien und die Sowjetunion.
„Winter der Welt“ ist nicht nur ein historischer Roman, sondern auch ein Entwicklungsroman: Die jungen Protagonisten versuchen, ihren Platz in einer Welt, die sich im grundlegenden Wandel befindet, zu finden. Vor dem Hintergrund des Zeitalters der totalitären Diktaturen und des Zweiten Weltkrieges suchen sie nach dem für sie richtigen Weg und nach ihrem persönlichen Liebesglück. Sie reflektieren eindringlich die politischen Zeitumstände und kämpfen aktiv gegen den sich in Europa ausbreitenden Faschismus. Dabei unterliegen sie Fehleinschätzungen und korrigieren sich dann wieder.
Besonders beeindruckt hat mich der Werdegang von Daisy Peshkov, die sich vom oberflächlichen Partygirl, das anfänglich nur ein Ziel hat, nämlich den gesellschaftlichen Aufstieg, zu einer politisch und sozial engagierten Frau entwickelt. Ken Follett lässt uns an ihren Selbstreflektionen teilhaben (wie auch bei den anderen Personen) und macht somit Motivationen und Entwicklungen sichtbar. Ähnlich spannend ist die Geschichte ihres russischen Cousins Wolodja Peshkow, der zur sowjetischen Machtelite gehört, aber bald erkennt, dass es hinsichtlich der Brutalität des Terrors keinen Unterschied zwischen Faschismus und Kommunismus gibt. Innerlich zerrissen, erfüllt er das, was er für seine Pflicht gegenüber seinem Vaterland hält.
Die Protagonisten kommen auch direkt mit den Zentren der Macht in Berührung. Ken Follett gelingt es dabei, Geschichte hautnah aus der Perspektive zeitgenössischer Augenzeugen zu inszenieren. Zwei Beispiele: William Loyd wird Zeuge von Hitlers Hassrede im brennenden Reichstag, Wolodja Peshkow begleitet seinen Vater zu Stalin, der sich nach dem deutschen Überfall mit einem Nervenzusammenbruch in seine Datscha zurückgezogen hatte. Das sind eindrucksvolle historische Momentaufnahmen, die der Autor auf diese Weise gekonnt erlebbar macht. Aber auch das alltägliche Leid der Menschen im Krieg wird thematisiert: seien es die deutschen Luftangriffe auf London, der japanische Angriff auf Pearl Harbor oder das barbarische Verhalten der sowjetischen Eroberer in Berlin. Ken Follett schildert alles aus der Perspektive derer, die dabei waren. Und zwar derart realistisch und emotional eindringlich, als wäre er selbst Augenzeuge der Geschehnisse gewesen.
Es werden aber nicht nur die "Haupt- und Staatsaktionen" beschrieben, sondern auch weniger bekannte historische Details, wie die faschistische Bewegung Mosleys in Großbritannien, die unrühmliche Rolle der Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg, die Ermordung von Behinderten durch die Nazis in der Aktion T4, die Ursprünge der UNO oder der Wahlsieg der Labour Party über Churchill. "Winter der Welt" ist aber kein trockenes Geschichtsbuch, sondern ein lebendiges Geschichtsvermittlungsbuch.
Ken Follett, der mit dem Spionage-Thriller „Die Nadel“ den literarischen Durchbruch geschafft hat, hat in „Winter der Welt“ auch eine ausführliche Spionagehandlung eingeflochten. Wolodja Peshkov, Offizier beim sowjetischen Auslandsgeheimdienst, ist hier im Zentrum der Handlung. Er steuert einen Spionagering während des 2. Weltkriegs in Deutschland und verhilft nach 1945 Stalin zur sowjetischen Atombombe.
Die historischen Zusammenhänge sind gut recherchiert und stimmen: Während der Arbeit zu seinem Roman hat er einzelne historische Schauplätze besucht, sein inzwischen 22-köpfiger Mitarbeiterstab hat für ihn Fakten gesammelt und ausgewertet.
Trotz der zahlreichen Schauplätze und Protagonisten verliert man als Leser nie den Überblick, denn Ken Follett ist ein grandioser Meister der nachvollziehbaren Konstruktion. Er ist aber vor allem ein Schriftsteller, dem es gelungen ist, vor einem sehr ernsten Hintergrund einen ebenso seriösen wie unterhaltenden Roman geschrieben zu haben. Ich freue mich bereits auf den dritten Teil der Jahrhundertsaga.
Ken Follett
Winter der Welt
Bastei Lübbe 2012
1024 Seiten
ISBN-10: 3785724659
ISBN-13: 978-3785724651
29.99 Euro
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