Sätze, so lang wie ein Gedanke eben dauert.
Dieses Buch genießt man am besten in kleinen Häppchen. So ungefähr lautet ein Satz, den ich am Ende des Buches gelesen habe. Es handelte sich dabei aber um ein Werbezitat für ein anderes Buch und trotzdem trifft diese Aussage auch auf „Tauben fliegen auf“ von Melinda Nadja Abonji zu. Man muss noch konkreter werden,
dieses Buch genießt man Satz für Satz. Wobei ein Satz oft über eine ganze Seite geht und man nach jedem Satz sich erst einmal Zeit zum Durchatmen gönnen muss.
Abonji packt so viele verschiedene Gedanken, Gefühle und Beschreibungen in nur einen Satz, dass man diese erst sortieren muss. Die Gedanken in einem Satz schweifen ab, vermischen Gegenwart und Vergangenheit und nehmen noch so einige Eindrücke der Umwelt mit. Wie das Gehirn, das so viele Einflüsse auf einmal verarbeiten und dann die wichtigsten herausfiltert. Klinkt jetzt kompliziert, ist es aber nicht. Trotz der ganzen Schachtelsätze ist das Folgen der Geschichte nicht nur Literaturprofessoren möglich.
Es liest sich gut und flüssig, man muss sich nur auf die Erzählweise einlassen, und es ist sehr interessant, wie viel man mit nur einem Satz aussagen kann.
Um es auf den Punkt zu bringen, das Buch fordert einen, es überfordert aber nicht. Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird belohnt mit einem großartig erzählten und halb autobiografischen Roman um die Familie Kocsis.
Auf 310 Seiten und ungefähr genauso vielen Sätzen (o.k. es sind doch ein paar mehr) wird aus dem Leben von Ildiko erzählt, die als Kind in den 80er Jahren aus Jugoslawien in die Schweiz auswandert, oder besser gesagt, aufgrund der Familienzusammenführung zu ihren Eltern in die Schweiz kommt. Seit ihrer späten Kindheit wächst sie in der Schweiz auf, einem für sie fremden Land. Sie fühlt sich selbstverständlich immer noch stark zu ihren Wurzeln in Jugoslawien verbunden und vermisst den Rest der Familie - ihre Mamika, ihre Tanten und Onkels.
Ildiko freut sich immer wieder in den Ferien in ihr Dorf in der Vojvodina, im Norden von Serbien, wo eine ungarische Minderheit wohnt, zurückzukehren. Einem Ort, in dem ihr alles so vertraut vorkommt und sich nichts zu ändern scheint, also einen Ort, der ihr Sicherheit und Geborgenheit gibt. Anfang der 90er eröffnen ihre Eltern in der Schweiz ein Café, das Mondial. Der Ort und die Arbeitsstätte, mit der die Familie versucht, sich der Schweiz anzupassen und nicht als Ausländer aufzufallen (obwohl die gesamte Familie schon längst eingebürgert wurde). Die Schweiz ist für sie mittlerweile ein sicherer Ort geworden, da in ihrer alten Heimat Krieg ausgebrochen ist. Die Angst, über den Rest der Familie, wie z. B. den eingezogenen Cousin, mischt sich mit der Angst, in der neuen Heimat nicht willkommen zu sein und sich möglichst gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit passiv zu verhalten.
Auf sehr eindrucksvolle Art und Weise beschreibt Abonji das Leben zwischen zwei Welten sowie die Angst und Zerrissenheit dazwischen. Jeder dieser langen Sätze macht dies deutlich und zeichnet ein detailliertes Bild der inneren Gefühlswelt von Ildiko und spiegelt sehr gut das damalige Zeitgeschehen in der Schweiz wider. Genau das, was zeitgenössische Literatur leisten soll. Man feiert auf Familienfeiern mit, die immer wieder nach zu viel Alkohol in politische Streitgespräche enden, und spürt die Hilflosigkeit und Angst um die Familie in der Kriegsregion.
Für dieses Buch gab es meiner Meinung nach zurecht 2010 den Deutschen Literaturpreis, der als Gradmesser für den aktuellen Stand in der deutschen Literaturlandschaft gilt. Und um am Ende noch ein paar Klischees zu erfüllen, hier noch ein Tipp: Gerade jetzt, wo es früher dunkel wird und man gerne mal ein Buch zur Hand nimmt, ist dieses Buch sehr zu empfehlen. Mit einem Glas Rotwein vor dem Kamin oder auf dem Sofa mit einem Tee. Oder einfach mal so lesen, weil man mal was anderes als einen Krimi lesen möchte. Aber ruhig Häppchenweise genießen und immer wieder Zeit nehmen, um durchzuatmen und zu reflektieren, was man gerade gelesen hat. Denn wer zu schnell liest, kann die Tauben aufscheuchen und die fliegen auf.
Abonji, Melinda Nadj
Tauben fliegen auf
314 Seiten
Salzburg, Jung und Jung Verlag 2010
ISBN-10: 3902497785
ISBN-13: 978-3902497789
EURO 22,00
(Dieses Buch war 2012 nominiert für den Deutschen Literaturpreis:
Sand, von Wolfgang Herrendorf .)
Carsten Behrendt, Mülheim an der Ruhr, im November 2012