Dabei handelt es sich nicht um einen Roman im klassischen Sinn, sondern um die Aneinanderreihung von einzelnen Szenen, die lediglich von der Klammer Drogen, Gewalt und Sex zusammengehalten werden. Außerdem setzte der Autor die Cut-up-Methode ein, d.h. William S. Burroughs zerschnitt seine Texte und setzte sie in zufälliger Reihenfolge wieder zusammen. (Quelle: FAZ) "Naked Lunch kann man an jedem Absatz zu lesen anfangen …“, schreibt der Autor selbst (S.267/268).
Es ist ein Wortorkan, der da auf den Leser niederprasselt. Manchmal ist es ein halluzinierender Entzugspatient im Delirium, dann wieder ein Drogensüchtiger im Rausch, der diese wahnhaften, irrwitzigen und skurrilen Geschichten erzählt. Als Leser lerne ich Drogen kennen, von denen ich nie zuvor gehört habe. Ich erfahre alles über Beschaffung, Anwendung und Konsum diverser Drogen. Und wer kann das authentischer erzählen als William S. Burroughs, der alle Stadien der Sucht und der Therapie mehrfach durchlaufen hat? William S. Burroughs sagte 1966 in einem Interview: “… die bewusstseinserweiternde Wirkung von Drogen … ist meiner Meinung nach nützlich für Schriftsteller. Denn es öffnet psychische Bereiche, die sonst einem Schriftseller nicht zugänglich wären.“ (Quelle: Interview 1966 ) Ab Seite 282 stellt der Autor, der 1956 schrieb, dass er mit dem Gedanken spiele „ein Buch über Rauschgifte zu schreiben“, dann auch die diversen Arten von Drogen und deren Wirkungsweise in einem wissenschaftlich anmutenden Beitrag vor. „Es gibt nur eines, worüber ein Schriftsteller schreiben kann: was im Augenblick des Schreibens von seinen Sinnesorganen wahrgenommen wird […] Ich bin kein Entertainer …“, lässt uns der Autor wissen. (S.263)
Exzessiver Sex, insbesondere homosexueller Sex, ist ein weiteres Leitmotiv, das sich durch die wahnhaften Szenarien zieht. Bis ins Detail wird alles beschrieben, nichts bleibt geheim, alles wird offenbart. Finale Stimulation von Knaben durch Erhängen und Genickbruch, gleich mehrfach beschrieben – da braucht man als Leser starke Nerven: „Mark langt nach oben und bricht Johnny mit einer einzigen flüssigen Bewegung das Genick …“ Dann folgen sexuelle Handlungen an der Leiche, der schließlich Lippen und Nase abgebissen und mit einem Plop die Augen ausgesaugt werden. (S.114/115) Im Nachwort, auf Seite 313, versucht William S. Burroughs, diese Szenen zu relativieren und als seinen Beitrag zur Abschaffung der Todesstrafe darzustellen. Na ja!
Die Welt ist ein Irrenhaus in Naked Lunch. Die Irren rasen durch die Straßen, zerstören alles und „wischen sich ihren Arsch mit Friedensverträgen, Pakten und Allianzen ab.“ (S.56) Nicht nur die Politik, auch die Religionen, insbesondere das Christentum und der Islam, werden radikal verneint und obszön-satirisch dargestellt. Besonders zu erwähnen ist hier der Abschnitt „Islam-AG“ : „Unter die versammelten Konferenzteilnehmer mischen sich nationalistische Märtyrer, die irgendwann die Handgranate in ihrem Arsch zünden und so für erhebliche Verluste sorgen ...“ (S.174)
Das Leseerlebnis erstaunt mich im Nachhinein selbst. Was für ein kranker Mist, Albträume eines Drogensüchtigen, ging es mir durch den Kopf. Aber ich konnte Naked Lunch nicht aus der Hand legen, zu sehr faszinierte mich das Buch. War es der Bruch aller Tabus, diese noch nie zuvor gelesenen Vorstellungen eines Gehirns unter Drogeneinfluss? Diese nie zuvor und wahrscheinlich nie wieder erreichte Konsequenz der schamlosen Offenbarung von geheimsten Gedanken und Albträumen in der Literatur? Diese zugleich phantastische Reise durch die surreale Interzone mit der impliziten Kritik an den realen politischen und sozialen Verhältnissen?
In Kenntnis der Biographie von William S.Burroughs las ich Naked Lunch (auch, aber nicht nur!) als Versuch eines gemarterten Ichs, sich die schlimmsten Vorstellungen therapeutisch von der Seele zu schreiben. Der Mann war drogenabhängig in einem unvorstellbaren Grad, hat seiner Frau in einer Wilhelm-Tell-Nachstellung in den Kopf geschossen und litt wohl angesichts der Zeitumstände extrem unter der herrschenden Homophobie.
Ich wollte auch wissen, was andere Rezensenten über Naked Lunch geschrieben haben. Und dabei fand ich sehr viel intellektuelle Beredsamkeit, die sich in allgemeinen Aussagen über die Wirkungsgeschichte des Buches und seine unzweifelhafte Zugehörigkeit in den Kanon der Standardwerke der Weltliteratur erging. Was fehlte, waren die persönlichen Eindrücke der Rezensenten angesichts der Monstrosität des Dargestellten.
Kann ich das Buch empfehlen? Ja, lesen Sie es. Sollte es Sie überfordern oder (was durchaus denkbar ist) einfach nur anekeln, dann legen Sie es einfach weg.
(Weitere Rezensionen: Die Zeit und FAZ)
Burroughs, William S.
Naked Lunch: Die ursprüngliche Fassung
rororo, 2. Auflage 2011
(Zitiert wurde nach der 3. Auflage 2001)
416 Seiten
ISBN-10: 3499256444
ISBN-13: 978-3499256448
9,99 EURO
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