Mittwoch, 31. Oktober 2012

GASTBEITRAG: Sieben Minuten nach Mitternacht – Patrick Ness, Siobhan Dowd

Du musst die Wahrheit aussprechen… 

Du musst die Wahrheit aussprechen, dazu musst du diese erkennen und akzeptieren. Die Wahrheit kann aber auch böse sein, aber nichts ist wirklich nur gut oder böse…



Conor ist dreizehn Jahre alt und seine Mutter hat Krebs im Endstadium. Mit seiner Mutter lebt er, seit sein Vater nach Amerika gezogen ist und eine neue Familie gegründet hat, alleine in England. Er übernimmt viele Pflichten im Haus, um seine Mutter zu unterstützen, aber auch um nicht mehr Zeit als nötig mit seiner Großmutter zu verbringen. Das Haus seiner Großmutter ist kinderunfreundlich, und lieber würde er alleine zu Hause bleiben als bei seiner einzigen nahen Verwandten, wenn zum Beispiel seine Mutter wieder für ein paar Tage zur Behandlung ins Krankenhaus muss.


Quelle YouTube: 
Patrick Ness, Siobhan Dowd -  Sieben Minuten 
nach Mitternacht - cbj -1.16 Minuten

Eines Nachts um sieben Minuten nach Mitternacht taucht ein Monster auf. Ein altes Baummonster, das ihn in den nächsten Nächten drei Geschichten erzählen will, und wenn die Geschichten erzählt sind, ist Conor dran, die vierte zu erzählen – seine Geschichte und die Wahrheit über seine Albträume. Und so beginnt ein Roman, ein Jugendbuch, das ich in dieser Form und Emotionstiefe schon lange nicht mehr gelesen habe. Einmal angefangen zu lesen, habe ich das Buch nicht mehr aus den Händen gelegt bis ich auf der letzten Seite angekommen war.

Bei amazon hat dieses Buch bei ca. 120 Bewertungen fünf Sterne erhalten. Das ist ungewöhnlich, da ja rein statistisch bei einer höheren Anzahl an Bewertungen diese sich eher bei 4,5 oder weniger einpendeln. Diese sehr guten Bewertungen haben mich ein wenig stutzig gemacht und als ich die ersten Seiten gelesen habe, muss ich zugeben, dass ich von dem Buch nicht richtig überzeugt war. Die Geschichte entwickelt sich langsam und endet in einem großen emotionalen Finale, das die Wahrheit ans Licht bringt und Erleichterung für Conor und den Leser bedeutet.

Das Buch hat im Oktober den „Deutschen Jugendliteraturpreis“ gewonnen und zwar den Preis der Jugendjury. Das bedeutet, dass nicht irgendwelche Literaturkritiker dieses Buch ausgewählt haben, sondern die Zielgruppe, also Kinder und Jugendliche selbst, dieses Buch prämiert haben. Meiner Meinung nach haben sie damit eine sehr gute und sehr weise Wahl getroffen. „Sieben Minuten nach Mitternacht“ erzählt eine Geschichte mit viel Fantasie, viel philosophischem Tiefgang und viel Gefühl. Diese Art von Geschichtenerzählen geht in vielen Büchern für Erwachsene oftmals verloren. „Sieben Minuten nach Mitternacht“ ist aber kein reines Buch für Jugendliche, es richtet sich, wie das heutzutage üblich ist, an alle Altersgruppen. Bei amazon kann man diesen Titel in zwei verschieden Versionen erhalten, die sich aber scheinbar nur in der Covergestaltung unterscheiden. Die Version für Erwachsenen kommt in einer etwas „konservativeren“ Titelgestaltung daher. Die Wahl, welche Ausgabe man lesen möchte, muss jeder für sich entscheiden. Der Inhalt bleibt der Gleiche, aber vielleicht ist es peinlich, mit einem Jugendbuch in der U-Bahn gesehen zu werden (dafür gibt es ja E-Books). Den Sinn oder Unsinn von zwei Ausgaben lasse ich mal so im Raum stehen.

Begleitet wird die Geschichte von wunderschönen Illustrationen von Jim Kay, der die Treffen von Conor und dem Monster schön in Szene gesetzt hat. Die Geschichten, die das Monster erzählt, bilden den Mittelpunkt dieses Buches. Zunächst erschließt sich der Sinn dieser Geschichten nicht, aber zum Schluss wird das Ganze zu einer Einheit und der Nebel lichtet sich. Das Monster hilft Conor, die Wahrheit zu finden und zu seinen Gefühlen zu stehen.

Das Erscheinen des Monsters und die Gespräche erinnern ein wenig an japanische Mangas, und ich musste an manchen Stellen an den japanischen Manga-Film „Mein Nachbar Totoro“ denken. Damit will ich nicht die beiden Geschichten vergleichen, denn dafür sind die beiden Werke zu unterschiedlich. Vielmehr ist die Stimmung in dem Buch und dem Film sehr ähnlich. Japanische Autoren und Filmemacher verstehen es so herrlich auf verschiedenen Wirklichkeits- und Zeitebenen zu erzählen. Patrick Ness gelingt dies in diesem Buch hervorragend und er schafft es damit eine interessante und spannende Geschichte zu erzählen. Das Buch fesselt und regt zum Nachdenken an und vermutlich wird der eine oder andere Leser auch nicht ohne Taschentuch auskommen. Beide Daumen hoch, fünf Sterne und dieses Buch ist ein Muss!

Carsten Behrendt, Mülheim an der Ruhr, im Oktober 2012

Ebenfalls mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und von Carsten Behrendt in Bücher und eBooks besprochen: 

Ness, Patrick
Dowd, Siobhan
Sieben Minuten nach Mitternacht
216 Seiten
cbj  2011
ISBN-10: 3570153746
ISBN-13: 978-3570153741
EUR 16,99

eBooks fördern das Lesen ...

... zu diesem Ergebnis kommt zumindest die top-aktuelle, repräsentative Studie „Digitale Angebote – neue Anreize für das Vorlesen?“, die am 30.10.12 von DIE ZEIT, der Stiftung Lesen und der Deutschen Bahn vorgestellt  wurde.

Gegenstand der Untersuchung war der Einfluss digitaler Medien wie Tablets, Smartphones oder eReader auf das Vorleseverhalten in Familien. Befragt wurden 500 Eltern mit mindestens einem Kind im Alter von zwei bis acht Jahren.

Die Ergebnisse im Überblick:
  • Elektronische Medien sind kein Ersatz für klassische Bilderbücher, sondern eine Ergänzung, das sagen 90% der Befragten.
  • Elektronische Medien erreichen sogenannte "bildungsferne Schichten". Erstaunlich ist, dass  in den Familien der sogenannten "bildungsfernen Schichten" Smartphones und Tablets mit 74 und 27 Prozent fast ebenso verbreitet sind wie in Familien mit formal hoher Bildung (81 und 26 Prozent).
  • Väter, die bisher deutlich seltener vorlesen als Mütter, können über die digitalen  Angebote motiviert werden.
  • Es gibt einen deutlichen, geschlechtsspezifischen Unterschied: Der Anteil der Väter, die dem digitalen Angebot den Vorzug  vor Büchern geben, liegt bei 40 Prozent, bei den Müttern nur bei 20 Prozent.

Quelle: „Digitale Angebote – neue Anreize für das Vorlesen?“

Freitag, 26. Oktober 2012

Naked Lunch von William S. Burroughs: einen Albtraum lesen ...

Naked Lunch erschien 1959 in Paris und wurde erst Jahre später, nach vielen Gerichts- und Verbotsverfahren, in den USA veröffentlicht. William S. Burroughs gehörte zusammen mit Jack Kerouac und Allen Ginsberg zu den Ideologen der Beatgeneration. Ihr Aufbegehren gegen die amerikanische Konsumgesellschaft und deren Mainstream-Literatur fand in der Darstellung von Gewalt, sexuellen Exzessen und einem intensiven Drogenkonsum Ausdruck. Und in Naked Lunch, oft als postmodernes Standardwerk gepriesen, geht es genau darum.



Dabei handelt es sich nicht um einen Roman im klassischen Sinn, sondern um die Aneinanderreihung von einzelnen Szenen, die lediglich von der Klammer Drogen, Gewalt und Sex zusammengehalten werden. Außerdem setzte der Autor die Cut-up-Methode ein, d.h. William S. Burroughs zerschnitt seine Texte und setzte sie in zufälliger Reihenfolge wieder zusammen. (Quelle: FAZ) "Naked Lunch kann man an jedem Absatz zu lesen anfangen …“, schreibt der Autor selbst (S.267/268).

Es ist ein Wortorkan, der da auf den Leser niederprasselt. Manchmal ist es ein halluzinierender Entzugspatient im Delirium, dann wieder ein Drogensüchtiger im Rausch, der diese wahnhaften, irrwitzigen und skurrilen Geschichten erzählt. Als Leser lerne ich Drogen kennen, von denen ich nie zuvor gehört habe. Ich erfahre alles über Beschaffung, Anwendung und Konsum diverser Drogen. Und wer kann das authentischer erzählen als William S. Burroughs, der alle Stadien der Sucht und der Therapie mehrfach durchlaufen hat? William S. Burroughs sagte 1966 in einem Interview: “… die bewusstseinserweiternde Wirkung von Drogen … ist meiner Meinung nach nützlich für Schriftsteller. Denn es öffnet psychische Bereiche, die sonst einem Schriftseller nicht zugänglich wären.“ (Quelle: Interview 1966 ) Ab Seite 282 stellt der Autor, der 1956 schrieb, dass er mit dem Gedanken spiele „ein Buch über Rauschgifte zu schreiben“, dann auch die diversen Arten von Drogen und deren Wirkungsweise in einem wissenschaftlich anmutenden Beitrag vor. „Es gibt nur eines, worüber ein Schriftsteller schreiben kann: was im Augenblick des Schreibens von seinen Sinnesorganen wahrgenommen wird […] Ich bin kein Entertainer …“, lässt uns der Autor wissen. (S.263)

Exzessiver Sex, insbesondere homosexueller Sex, ist ein weiteres Leitmotiv, das sich durch die wahnhaften Szenarien zieht. Bis ins Detail wird alles beschrieben, nichts bleibt geheim, alles wird offenbart. Finale Stimulation von Knaben durch Erhängen und Genickbruch, gleich mehrfach beschrieben – da braucht man als Leser starke Nerven: „Mark langt nach oben und bricht Johnny mit einer einzigen flüssigen Bewegung das Genick …“ Dann folgen sexuelle Handlungen an der Leiche, der schließlich Lippen und Nase abgebissen und mit einem Plop die Augen ausgesaugt werden. (S.114/115) Im Nachwort, auf Seite 313, versucht William S. Burroughs, diese Szenen zu relativieren und als seinen Beitrag zur Abschaffung der Todesstrafe darzustellen. Na ja!

Die Welt ist ein Irrenhaus in Naked Lunch. Die Irren rasen durch die Straßen, zerstören alles und „wischen sich ihren Arsch mit Friedensverträgen, Pakten und Allianzen ab.“ (S.56) Nicht nur die Politik, auch die Religionen, insbesondere das Christentum und der Islam, werden radikal verneint und obszön-satirisch dargestellt. Besonders zu erwähnen ist hier der Abschnitt „Islam-AG“ : „Unter die versammelten Konferenzteilnehmer mischen sich nationalistische Märtyrer, die irgendwann die Handgranate in ihrem Arsch zünden und so für erhebliche Verluste sorgen ...“ (S.174)

Das Leseerlebnis erstaunt mich im Nachhinein selbst. Was für ein kranker Mist, Albträume eines Drogensüchtigen, ging es mir durch den Kopf. Aber ich konnte Naked Lunch nicht aus der Hand legen, zu sehr faszinierte mich das Buch. War es der Bruch aller Tabus, diese noch nie zuvor gelesenen Vorstellungen eines Gehirns unter Drogeneinfluss? Diese nie zuvor und wahrscheinlich nie wieder erreichte Konsequenz der schamlosen Offenbarung von geheimsten Gedanken und Albträumen in der Literatur? Diese zugleich phantastische Reise durch die surreale Interzone mit der impliziten Kritik an den realen politischen und sozialen Verhältnissen?

In Kenntnis der Biographie von William S.Burroughs las ich Naked Lunch (auch, aber nicht nur!) als Versuch eines gemarterten Ichs, sich die schlimmsten Vorstellungen therapeutisch von der Seele zu schreiben. Der Mann war drogenabhängig in einem unvorstellbaren Grad, hat seiner Frau in einer Wilhelm-Tell-Nachstellung  in den Kopf geschossen und litt wohl angesichts der Zeitumstände extrem unter der herrschenden Homophobie.

Ich wollte auch wissen, was andere Rezensenten über Naked Lunch geschrieben haben. Und dabei fand ich sehr viel intellektuelle Beredsamkeit, die sich in allgemeinen Aussagen über die Wirkungsgeschichte des Buches und seine unzweifelhafte Zugehörigkeit in den Kanon der Standardwerke der Weltliteratur erging. Was fehlte, waren die persönlichen Eindrücke der Rezensenten angesichts der Monstrosität des Dargestellten.

Kann ich das Buch empfehlen? Ja, lesen Sie es. Sollte es Sie überfordern oder (was durchaus denkbar ist) einfach nur anekeln, dann legen Sie es einfach weg.

(Weitere Rezensionen: Die Zeit und FAZ)

Burroughs, William S.
Naked Lunch: Die ursprüngliche Fassung
rororo, 2. Auflage 2011
(Zitiert wurde nach der 3. Auflage 2001)
 416 Seiten
ISBN-10: 3499256444
ISBN-13: 978-3499256448
9,99 EURO

Dienstag, 23. Oktober 2012

Reich und berühmt mit eBooks!?

Selbst ist der Autor - denken heute viele und umgehen die "überarbeiteten" Lektoren und wählerischen Programmmacher der renommierten Literaturverlage. Amazon, XinXii, neobooks und BookRix  machen es möglich: schnell ist das eigene eBook fertig und einem breiten Publikum zugänglich.

Wolfgang Tischer, Chefredakteur des renommierten literaturcafe.de, bietet nun ein Seminar an, in welchem er vorstellt, "welche Möglichkeiten man als Autor hat und welche Vorkenntnisse man benötigt. Was sollte und was kann man als Autor selbst machen und wo benötigt man Hilfe."

Zeit: Samstag, 10. November, 15.30 – 18 Uhr
Ort: Erbacher Hof, Mainz
Referent: Wolfgang Tischer, literaturcafe.de
Teilnahme-Gebühr: 20 Euro / ermäßigt 10 Euro
Das Seminar ist auf 20 Teilnehme(innen) begrenzt.

Weitere Infos und Anmeldung: literaturcafe

Montag, 22. Oktober 2012

Die Lage der Bibliotheken in Deutschland 2012

Der Deutsche Bibliotheksverband hat seinen Jahresbericht vorgelegt:

10.361 Bibliotheken gibt es in Deutschland

330.000 Veranstaltungen finden in Bibliotheken statt

700.000 Besuche an jedem Werktag

11.000.000 Leser sind registriert

210.000.000 Besuche zählen Bibliotheken jährlich

363.000.000 Medien in den Bibliotheken

472.000.000 Medien werden jährlich entliehen

Das sind eindrucksvolle Zahlen!

Audiobooks, eBooks, „Der Spiegel“ oder „Die Zeit“ als pdf stehen inzwischen in zahlreichen öffentlichen Bibliotheken rund um die Uhr dem Nutzer über die Onleihe zur Verfügung. "Die e-Ausleihe macht es mittlerweile an jeder zehnten Bibliothek möglich, Inhalte digital direkt auf den eigenen Computer zu laden."

Quelle: Bericht zur Lage der Bibliotheken 2012




Freitag, 19. Oktober 2012

GASTBEITRAG: Titan von Robert Harris – Historischer Roman

Rom im Jahr 63 v. Chr.: Der römische Redner und Staatsmann  Quintus Tullius Cicero bekleidet als Konsul das höchste Amt in Rom. Im Wahlkampf hat er sich gegen den korrupten Patrizier  Lucius Julius Catilina durchgesetzt, dieser hat den Kampf aber noch nicht aufgegeben. Zusammen mit enttäuschten Aristokraten, Veteranen und Kriminellen bereitet er einen großen Umsturz vor, um an die Macht zu gelangen. Dabei erfährt Cicero von einer konspirativen Sitzung, auf der seine Ermordung geplant wurde.

Die Biografie erzählt Tiro, Ciceros Privatsekretär und Familiensklave, Erfinder der Kurzschrift. Tiros mehrbändiges Werk diente in der Vergangenheit u. a. Historiker wie Pedianus und Plutarch als Quelle. Das Buch deckt den zeitlichen Rahmen der Konsulzeit und der darauf folgenden Jahre von Cicero ab. Es gibt eine Vielzahl von politischen Intrigenspielen und Verschwörungen. Aber seine Widersacher haben sich längst formiert. Ein besondere Rolle spielt Ciceros Kontrahent Gaius Julius Caesar dabei, dessen Einfluss unaufhörlich wächst.

Auf die Abbildung klicken ... und bei Amazon bestellen.

Im Jahr 60 v. Chr. schlossen sich Gaius Iulius Caesar, der siegreiche Befehlshaber Gnaeus Pompeius Magnus und der reichste Mann Roms,  Marcus Licinius Crassus, zu einem inoffiziellen Bündnis, das später als Erstes Triumvirat bezeichnet wurde, zusammen.

Das sogennannte Triumvirat droht die Republik zu stürzen. Cicero muss seine Tugendhaftigkeit auf die zwangsläufige Probe stellen: Wenn man die Macht im Staat innehat – ist es dann gerechtfertigt, illegale Methoden anzuwenden, um die Republik zu retten?

Titan ist der zweite Teil der Trilogie, nach Imperium, der Ciceros Aufstieg zur Macht schildert. Es ist aber nicht nötig, zuerst das eine Buch und danach das andere zu lesen, um der Geschichte zu folgen. Laut dem Autor ist das Werk ein Roman und kein Geschichtswerk, wenn sich beide Ansprüche im Wege standen, so hat er sich für das erstere entschieden. Aber dennoch hat er, so weit wie möglich, die Fiktion in Einklang mit den geschichtlichen Ereignissen gebracht.

Das Buch Titan von Robert Harris ist ein gut recherchierter historischer Roman, der den Leser ins antike Rom entführt, und er liefert zugleich einen packenden Politthriller über die letzten Züge der römischen Republik.

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Er schrieb mehrere Romane unter andrem Pompeji, Imperium und Titan, die allesamt internationale Bestseller wurden.

Martin Schmid, Freiburg im Oktober 2012

Harris, Robert
Titan
544 Seiten
Wilhelm Heyne Verlag, München, 2009
ISBN-978-3-453-43547-6
EUR 9,99 Taschenbuch

Dienstag, 16. Oktober 2012

16. Oktober 1927

"Ein ganzes leichtgläubiges Volk glaubte an den Weihnachtsmann. Aber der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit der Gasmann. Ich glaube, dass es nach Nüssen riecht und nach Mandeln. Aber es roch nach Gas." (aus: Die Blechtrommel, 1957)

Herzlichen Glückwunsch zum 85. Geburtstag, Günter Grass. Vielen Dank für Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre, Der Butt, Die Rättin und vieles mehr! (Über schlechte Gedichte reden wir hier nicht.)


Montag, 15. Oktober 2012

amazon eröffnet Kindle Leihbücherei in Deutschland!

Pünktlich zur Einführung des neuen Kindle Paperwhite und zur Buchmesse überrascht amazon mit der Eröffnung der Kindle Leihbücherei.

Hier die wichtigsten Eckdaten:

  • Start: noch im Oktober 2012
  • Kosten: Mitgliedschaft bei Amazon Prime, d.h. 29,00 EURO / Jahr
  • Technische Voraussetzung: Kindle-Reader
  • Umfang: 200.000 eBooks, davon 8.5000 deutschsprachig (alle 7 Harry Potter-Bücher)
  • Ausleihmodus: eineBook ohne zeitliche Begrenzung, nach der Rückgabe kann das nächste ausgeliehen werden
  • Folgen für Selfpublisher: keine automatische Aufnahme in das Leihbücherprogramm

Freitag, 12. Oktober 2012

Der Deutsche Jugendliteraturpreises 2012 geht an ...

Der Deutsche Jugendliteraturpreis wird seit 1956 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet und jährlich verliehen. Die Preise sind mit 8.000 Euro pro Kategorie dotiert. Heute fand die Preisverleihung im Saal Harmonie des Congress Centers der Messe Frankfurt statt.

Nominiert waren in der Sparte Jugendbuch:

Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder

Timothée de Fombelle: Vango - Zwischen Himmel und Erde

Kevin Brooks: iBoy

Gabi Kreslehner: Und der Himmel rot

Nils Mohl: Es war einmal Indianerland

Els Beerten: Als gäbe es einen Himmel

Und das  ist der  Preisträger:

Nils Mohl: Es war einmal Indianerland

"Dieser Roman führt in die Tristesse der Vorstädte. Ein Hausbewohner hat seine Frau erwürgt. Später wird sich herausstellen, dass es der Vater des Ich-Erzählers war. Zur Inszenierung des Lebens in einem Hamburger Stadtteil, der von jeglicher Gentrifizierung noch unberührt ist, gehören der Freund, mit dem der Ich-Erzähler im Fitness-Studio Eisen stemmt, seine Traumfrau Jackie, die unerreichbar scheint, und Edda, die vielleicht doch die Richtigere für ihn ist. Sie ist es auch, die die Kalamitäten der Adoleszenz auf den Punkt bringt: „Du bist 17, es ist dein Recht, dich von der Welt nicht verstanden zu fühlen.“
Mohls in raffinierten Zeitsprüngen konstruierte Erzählung lebt unter anderem von dem konzisen Einsatz filmischer Gestaltungsmittel. Schnelle Schnitte, Vor- und Rückblenden – typografisch mit den Zeichen für die Vor- und Rückspultasten von DVD-Playern markiert –katapultieren den Leser immer wieder in einen anderen Kontext.
Es war einmal Indianerland ist kunstvoll gebaut, mit seinen zahlreichen, kreativen Neologismen sprachlich innovativ und überzeugend. Es bietet eine neue, aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte. Nils Mohl gelingt es, anspruchsvolles literarisches Erzählen thematisch dicht bei seinen jugendlichen Lesern zu realisieren – und das mit viel Herz und Ohr für seine Adressaten."

Übrigens, eines der nominierten Bücher, nämlich iBoy von Kevin Brooks wurde bereits am 6.7.12 in "Bücher und eBooks" besprochen:
"Batman, Spider-Man, Superman und jetzt „iBoy“ von Kevin BrooksEs gibt schon eine Menge Superhelden. Doch die Welt braucht ab und zu mal wieder einen Neuen. Jetzt wird die Riege der Superhelden ergänzt durch iBoy.
Eigentlich heißt der 16 jährige Junge mit Superkräften Tom Harvey, aber jeder Superheld braucht einen Supernamen. Und da er seine Kräfte einem Zusammenstoß mit einem iPhoneverdankt, liegt der Name auf der Hand. Nun der Reihe nach." ... weiterlesen ...



Quelle zum Jugendliteraturpreis: http://www.djlp.jugendliteratur.org 





Amerika in der Krise: Sunset Park von Paul Auster

Sunset Park ist die Geschichte von Miles Heller, seinen Eltern, seinen Freunden und vom heutigen Amerika in der Krise. In einem Interview mit der ZEIT fast Paul Auster seine Situationswahrnehmung in einem Satz zusammen: „ Bush hat das Land zerstört. Seine Politik war so furchtbar, dass Obama die schlimmste Krise seit drei Generationen vorfand.“ Vor dieser Kulisse agieren seine Figuren.



Miles, 28 Jahre alt, schlägt sich als Entrümpler in Florida durch. Die Immobilienblase ist geplatzt, die verschuldeten Wohnungs- und Hauseigentümer werden zwangsvollstreckt und geräumt. Miles fotografiert das, was zurückgelassen wurde. Bildzeugnisse des Scheiterns von Lebensentwürfen und Hoffnungen.

Paul Auster schildert ein krisengeschütteltes Amerika. Immer wieder wird dabei der Vergleich zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Eine Zeit, in der Millionen desillusionierter Männer wieder nach Hause kamen, ohne jemals emotional heimzukehren. Immer wieder wird auf William Wylers Film "Unsere besten Jahre" aus dem Jahr 1946 Bezug genommen. Paul Auster zieht deutlichen Parallelen zu seinen Antihelden: „Jeder meiner jungen Menschen sucht einen Ausweg, aber da ist ein Gefühl – nicht von Untergang, aber von mangelnder Hoffnung.“

Miles hatte nach dem Tod seines Stiefbruders das College aufgegeben, das Elternhaus verlassen und sich mit Handlanger-Jobs über Wasser gehalten. Tiefe Gewissensbisse quälen ihn. Während eines Streits hatte er seinen Stiefbruder gestoßen, und der wurde von einem vorbeifahrenden Auto erfasst oder getötet. Hatte er ihn gestoßen bevor oder nachdem er das Auto gehört hatte? Er weiß es nicht mehr. Paul Auster sagt: „Wir leben, wie zu Zeiten des Bürgerkrieges, in einem geteilten Land.“ Ist der angedeutete Brudermord eine Metapher für diese Ansicht?

Die Kapitel sind nach den Figuren benannt. Dabei wechselt der allwissende Erzähler die Perspektiven und schildert oft auch dieselbe Begebenheit aus verschiedenen Wahrnehmungen.

Miles liebt die Minderjährige Pilar, einer elternlosen aus Cuba stammenden Amerikanerin, und wird von deren älterer Schwester erpresst. Er flieht nach New York zu seinem Freund Bing, der eine "Klinik für kaputte Dinge" betreibt. D.h. er repariert Dinge, die unmodern sind, wie z.B. Schreibmaschinen. Mit zwei weiteren Freunden, einer Doktorandin und einer Malerin, die am Existenzminimum leben, hat er ein abbruchreifes Haus in Sunset Park (Brooklyn) besetzt.

Alle haben eines gemeinsam: Sie sind jung, gut ausgebildet, verdienen aber nicht genug Geld mit ihren Jobs und suchen nach sich selbst, nach Orientierung. „Jeder meiner jungen Menschen sucht einen Ausweg, aber da ist ein Gefühl – nicht von Untergang, aber von mangelnder Hoffnung“, sagt der Autor. Die Wohngemeinschaft steht für die verlorene amerikanische Jugend nach Bush. Sunset Park „handelt von diesen jungen Menschen, um die ich mich sehr sorge. Die Wirtschaft ist am Boden, Jobmöglichkeiten sind nicht mehr, was sie waren. Das Schlimmste, was wir unseren Kindern antun, ist, dass Bildung so teuer gemacht wurde, dass nur noch die Reichsten der Reichen sie bezahlen können.“ 

Aber auch Miles Vater Morris kämpft um seine Existenz: Sein Verlag steht auf der Kippe, seine Ehe wegen eines Seitensprungs vor dem Aus. Wird er sich als „Dosenmann" (Leergutsammler) durchschlagen müssen?

Schließlich trifft sich Miles mit seinen Eltern und seiner Stiefmutter und beichtet seine vermeintliche Schuld am Tod seines Stiefbruders. Die Patchwork-Familie steht zu ihm, seine Stiefmutter nimmt ihn in die Arme. Dann schlägt das System zu und vertreibt die vier jungen Leute mit brachialer Gewalt aus dem Haus.

Interessant waren für mich vor allem die zahlreichen Perspektiven, aus der sich die Erzählung zusammensetzt. Man versteht die Handelnden, sie sind in ihrer Hilflosigkeit sympathisch. Es gibt allerdings – außer bei Miles persönlichem Schuld-Trauma – keinen Ausweg, kein Happy End. Am Schluss siegt das System. Paul Auster ist ein Könner, der leicht dahin schreibt, fast schon im Plauderton, den Leser aber mit dem Gefühl der Tristesse am Ende zurücklässt.

Die Paul Auster Zitate stammen aus einem ZEIT-Interview
Rezension zu Leviathan von Paul Auster auf "Bücher und eBooks"

Auster, Paul
Sunset Park
Übersetzung von Werner Schmitz
Rowohlt Verlag, 2012
315 Seiten
ISBN-10: 3498000829
ISBN-13: 978-3498000820
19,95 €

Dienstag, 9. Oktober 2012

Ab dem 12.10.12: Kostenloses eBook zum Erscheinen von "ABATON. Die Verlockung des Bösen"

Gratis-eBook zum Erscheinen von "ABATON. Die Verlockung des Bösen": 
Der erste Band der ABATON-Trilogie ab Freitag 3 Tage gratis zum Download in allen eBook-Shops 

Zum Erscheinen des zweiten Bandes der ABATON-Trilogie lanciert der mixtvision Verlag am 12.10.2012 über alle eBook-Stores eine Gratis-Aktion. Kurz nach Erscheinen des zweiten Bandes Die Verlockung des Bösen gibt es den ersten Band Vom Ende der Angst 3 Tage lang kostenlos zum Download.

Standardmäßig kosten die eBooks der ABATON-Trilogie je 8,99 €. Die Gratis-Aktion läuft von 12. bis 14. Oktober 2012 in allen Online-Shops.

Der mixtvision Verlag, ein unabhängiger Kinder- und Jugendbuchverlag aus München, veröffentlicht den Großteil seiner Bücher auch als eBooks. Pünktlich zur Buchmesse macht er nun mit der ABATON-Gratis-Aktion auf das neue, umfassende digitale Angebot aufmerksam.

In ihrer ABATON-Trilogie überschreiten die preisgekrönten Drehbuchautoren Christian Jeltsch und Olaf Kraemer die Grenze des Gewohnten, Vertrauten. Filmisch schnell und packend geschrieben, entsteht eine fesselnde Geschichte fernab von Fantasy und Science Fiction, ganz in der Erlebniswelt moderner junger Erwachsener verwurzelt und gerade deshalb umso beklemmender und spannender.

Mehr Informationen zum Buch und den Autoren finden sich unter www.abaton-trilogie.de und auf Facebook: www.facebook.com/ABATONTrilogie.


Quelle: eMail Pressemitteilung des Verlags vom 9.10.12 

Montag, 8. Oktober 2012

In 2012 werden 800.000 eReader verkauft ...

... das hat die Gesellschaft für Konsumforschung im Auftrag des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (kurz: BITKOM) prognostiziert. 

Das sind beeindruckende 247 % elektronische Lesegeräte mehr als im Vorjahr. 

"Der Markt für E-Reader und den entsprechenden Inhalten, allen voran E-Books, steht vor dem Durchbruch“, so der BITKOM-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder. Übrigens, in den vorausberechneten Absatzzahlen sind Tablets nicht enthalten.

Für 2013 schätzen die Experten  gar einen Verkauf von 1,4 Millionen eReadern.

Samstag, 6. Oktober 2012

Hörenswert: Der Bücher-Podcast des Deutschen Taschenbuch Verlags

Jeden Monat präsentiert der dtv Bücher-Podcast die Leseprobe eines aktuellen dtv-Titels. Neben einer Lesung aus dem jeweiligen Buch sind die Beiträge mit Anmerkungen der Autoren oder Mitarbeiter des Verlags angereichert. Produziert wird der Podcast vom literaturcafe.de.

Ergänzend gibt es Links zu weiterführenden Informationen zum präsentierten Werk. Man kann die Podcasts downloaden oder webbasiert anhören. Außerdem lassen sie sich via RSS-Feed abonnieren. 

Eine wirklich gute Idee!

Hier geht es zur Folge 21: Das Alphabethaus vom Februar 2012

Freitag, 5. Oktober 2012

Krieg, Krimi, Freundschaft: Rezension zu Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus


Der Roman „Das Alphabethaus“ ist Jussi Adler-Olsens Erstlingswerk und in seiner Heimat Dänemark bereits 1997 veröffentlicht worden. Bei uns erschien das Buch erst 2012, also nach seinen drei Erfolgsromanen „Erbarmen", „Schändung" und „Erlösung".

Der erste Teil des Buches spielt im Kriegsjahr 1944. Zwei britische Piloten, Freunde seit der Schulzeit, werden über Nazi-Deutschland abgeschossen. James und Bryan werden von Suchmannschaften verfolgt, aber es gelingt ihnen zu entkommen, indem sie auf einen Lazarettzug aufspringen. Sie nehmen die Identität zweier hochrangiger SS-Schergen an. Sie werfen die beiden Schwerverwundeten aus dem Zug und nehmen deren Plätze in den Krankenbetten ein. 



Kaum der deutschen Sprache mächtig täuschen sie psychische Krankheiten vor, um nicht sprechen zu müssen,  und werden in ein in der Nähe Freiburgs gelegenen Sanatorium für psychisch kranke  Militärangehörige eingeliefert. Im Alphabethaus, so genannt, weil die Insassen über Buchstabencodes in Kategorien eingeteilt werden, tun James und Bryan alles dafür, um als „verrückt“ zu gelten. 


Doch dann stellen sie fest, dass sie nicht die einzigen Simulanten im Alphabethaus sind. Drei hohe SS-Offiziere und skrupellose Kriegsverbrecher haben sich hierher gerettet, um den Krieg unbeschadet zu überstehen. In der Sowjetunion waren sie nicht nur an Massakern der Einsatzgruppen beteiligt, sondern haben sich auch ein Vermögen zusammengerafft, das sie nach dem Krieg genießen wollen. Einer von ihnen war sogar Kommandant eines KZ, bevor er an die Front versetzt wurde. Die Simulanten quälen die anderen Insassen, ermorden andere Simulanten, damit niemand ihr Geheimnis verrät, und argwöhnen, dass auch mit James und Bryan etwas nicht stimmt. Das Leben der beiden britischen Piloten gerät dadurch in allergrößte Gefahr. Für James beginnt ein Jahrzehnte andauerndes Martyrium.

Schreckliches passiert in der Heilanstalt für psychisch Kranke: Elektroschocks, Versuche mit Psychopharmaka, sadistische Behandlung durch das Pflegepersonal, Liquidation von erkannten Simulanten vor aller Augen. Das Buch spielt in einer Zeit, als in Deutschland ein Menschenleben nichts galt.

Adler-Olsen kennt ganz genau die Atmosphäre einer Heilanstalt. Er hat als Sohn eines Psychiaters einen großen Teil seiner Kindheit in derartigen Einrichtungen verbracht. Er selbst sagt darüber:
„Aber Sie können sich nicht vorstellen, was ich in diesen Kliniken alles gesehen habe. Ich sah schreiende und tobende Patienten, entdeckte einige, die sich im Wald an Bäumen erhängt hatten, und beobachtete im Sommer, dass als gefährlich eingestufte Insassen wie Tiere in offenen Käfigen ausharren mussten. Manchmal schlich ich mich in die Behandlungszimmer und versteckte mich. So konnte ich zusehen, wie mit Elektroschocks behandelt wurde. Durch ein Dachfenster habe ich sogar bei Autopsien zugeschaut.“ (Quelle: BZ Interview
Deshalb wirkt die Beschreibung des Alltags in der Heilanstalt auch so authentisch.

Bryan gelingt nach 10 grausamen Monaten die Flucht aus der Klinik, aber er muss den durch die Medikamente und Elektroschocks lethargisch gewordenen James zurücklassen. Bryan hat erfahren, dass er „hohen“ Besuch aus Berlin zu Weihnachten bekommen soll und weiß, dass dann alles ans Tageslicht kommen würde. Die Front ist inzwischen so nahe an Freiburg herangerückt, dass man die Mündungsfeuer der Artillerie bereits erkennen kann. Also rettet er sich zu den Alliierten Linien.

Jahrzehnte später, im Jahr 1972, begibt er sich auf die Suche nach seinem Freund. Immer wieder hatte er zuvor schon Detektive beauftragt, nach seinem Freund zu suchen, aber stets ohne Ergebnis. Auch glaubt er, dass James möglicherweise bei einem Bombenangriff umgekommen ist. Die Royal Air Force hatte nach den Schilderungen von Bryan beschlossen, die Klinik zu zerstören. Denn gegen Ende des Krieges schickte das Regime jeden an die Front, der ein Gewehr halten konnte, und SS-Führer - so das alliierte Kalkül - wollte man vorher töten. Ein Lazarett zu bombardieren, bleibt allerdings eher eine fragwürdige Art der Kriegsführung. 


Bryan lässt es keine Ruhe, dass er James im Stich gelassen hat. Er hat inzwischen Medizin studiert und ist durch den Vertrieb von medizinischen Artikeln reich geworden.In München ist er als Berater bei den Olympischen Spielen tätig und reist nun persönlich nach Freiburg . Aber nicht nur sein Freund Bryan ist noch am Leben, auch die Nazi-Schergen haben überlebt. Im zweiten Teil nimmt der Roman deutlich an Fahrt auf. Der Leser wird Zeuge einer grandiosen Abfolge von Aktionen und Reaktionen.

Obwohl ein Großteil des Buches in der Kriegszeit spielt, ist „Das Alphabethaus“ jedoch kein Kriegs- oder Antikriegsroman. Es geht vielmehr um die Freundschaft zweier Männer, die das Schicksal trennt. Es geht um Ohnmacht angesichts einer gnadenlosen, brutalen Welt und um nie enden wollende Gewissensbisse, weil man aus reinem Selbsterhaltungstriebe einen anderen im Stich gelassen hat. Aber es geht auch um eine erstaunliche Liebesbeziehung zwischen der Krankenschwester Petra und James, die drei Jahrzehnte unerfüllt und sprachlos bleibt.

Zahlreiche Rezensenten bewerten diesen Roman äußerst negativ. Die einen, weil sie sich eine Art Kommissar Carl Mørck-Geschichte erwarten. Die anderen, weil sie die Geschichte für zu konstruiert halten und Adler-Olsen einige historische Fehler nachweisen. Ich habe den Roman dennoch gerne gelesen. Fand die Story spannend und den historischen Background durchaus glaubwürdig. Zugegeben, dass der Autor den Luftangriff auf Freiburg in den Januar 1945 verlegt, ist ein Fehler, der nicht hätte unterlaufen dürfen. Aber der Alltag unterm Hakenkreuz und während des letzten Kriegsjahres ist atmosphärisch gut erfasst. Die Zerrissenheit der Menschen zwischen Humanität und Regimetreue sowie das Mitläufertum und Wegsehen der vielen und die brutalen Verbrechen der viel zu vielen sind überzeugend in die Handlung eingeflochten. Und ist es nicht auch traurige Wirklichkeit, dass zahlreiche Nazi-Täter nach dem Krieg in der Bundesrepublik zu hohem Ansehen gelangt sind und als geachtete Bürger weiterlebten? War nicht Freiburg der Altersruhesitz eines von Hitlers Richtern, der es in der Bundesrepublik weit gebracht hatte?

Die Konstruktionen sind m.E. statthaft, denn sie sind keineswegs zu übertrieben, sondern moderat, eben die Handlung vorantreibend. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, einen Krimi, ein Freundschaftsdrama.

Alternativvorschlag: Zwei englische Piloten werden nach ihrem Absturz in ein Gefangenenlager transportiert oder vom aufgepeitschten Nazi-Mob gelyncht. Das wäre zwar realistischer, aber nicht der Stoff für eine spannende Lektüre. Und das ist „Das Alphabethaus“ ganz ohne Zweifel!



Adler-Olsen, Jussi
Das Alphabethaus
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess und Marieke Heimburger
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012
592 Seiten
ISBN-10: 3423248947
ISBN-13: 978-3423248945
15,90 Euro.

Donnerstag, 4. Oktober 2012

30.000 EURO für Krachts Imperium - auch wenn es nicht jedem gefällt!

Der mit 30.000 Euro dotierte Wilhelm-Raabe-Literaturpreis geht 2012 an den Schriftsteller Christian Kracht für seinen Roman „Imperium“. Die Stadt Braunschweig und der Deutschlandfunk loben diesen wichtigen deutschen Literaturpreis alljährlich aus.

In der Begründung der Jury heißt es u.a. die deutschen Kolonien im Zeitalter Willhelm II. seien noch nie so "farbig schillernd, so böse komisch, phantastisch realistisch, pathologisch weltbeglückend, so schräg verzerrt wie in Christian Krachts Roman" beschrieben worden. Der Roman komme "heiter parlierend daher, im Ton des späten, leicht überdrehten realistischen Stils des späten 19. Jahrhunderts". Er balanciere auf der "Grenze zwischen Komik und Schrecken". (Pressemitteilung der Stadt Braunschweig)

Man kann nach der Lektüre des Buchs aber auch ganz anderer Ansicht als die Jury sein: Neben dem anstrengenden und aufgeblasenen Schreibstil hat mich der dreiste Versuch, einen tieferen Sinn dieser skurrilen Geschichte zu behaupten, am meisten gestört. Deshalb bleibe ich immer noch bei meiner Empfehlung vom 14.4.12 in "Bücher und eBooks": Nicht lesen!

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Zum Tag der Deutschen Einheit

2010/2011 hat das Goethe-Institut in einer Online-Umfrage 13.000 Menschen aus 18 europäischen Ländern zum Thema Deutschland befragt. Unter anderem wurden folgende Fragen gestellt:

 Welches ist für Sie das beste Buch in deutscher Sprache?
1. Faust (Johann Wolfgang von Goethe) 17%
2. Die Blechtrommel (Günter Grass) 10%
3. Grimms Märchen 8%
4. Die Buddenbrooks (Thomas Mann) 7%
5. Der Zauberberg (Thomas Mann) 7%
6. Die Leiden des jungen Werther (Johann Wolfgang von Goethe) 7%
7. Das Parfüm (Patrick Süskind) 6%
8. Im Westen nichts Neues (Erich Maria Remarque) 4%
9. Drei Kameraden (Erich Maria Remarque) 4%
10. Der Vorleser (Bernhard Schlink) 4%

Das Ergebnis der Umfrage im Bereich Literatur ist in weiten Teilen nachvollziehbar: Goethe, Mann, Grass ... 

Welches ist das bedeutendste historische Ereignis, das Sie mit Deutschland verbinden?
1.Fall der Berliner Mauer 1989 19%
2. II.Weltkrieg 18%
3.Luthers Reformation 12%
4. I.Weltkrieg 10%
5.Massenmord an den europäischen Juden 7%
6.Bau der Berliner Mauer 1961 6%
7.Deutsche Wiedervereinigung 1990 5%
8.Deutsche Reichsgründung 1871 5%
9.Nationalsozialismus und 3. Reich 4%
10.Gründung der Europäischen Union 2%

Was Geschichte angeht, kommt Deutschland in der Wahrnehmung seiner Nachbarn nicht so gut weg. Gerade die Ereignisse, die man hierzulande gerne historisieren, heißt als abgeschlossen betrachten würde, prägen immer noch das Deutschlandbild unserer Nachbarn. II. Weltkrieg, Massenmord und 3.Reich kann man in einen Themenkomplex einordnen und kommt dann auf 29%.

Montag, 1. Oktober 2012

Günter Wallraff zum Geburtstag

Am 1. Oktober 1942 wurde Günter Wallraff geboren.

Als Hans Esser enthüllte er die Methoden der Bildzeitung. Als türkischer Gastarbeiter Ali offenbarte er die unmenschlichsten Arbeitsbedingungen bei namhaften Unternehmen: harte Arbeit, fehlende Sicherheitsvorkehrungen, Hungerlöhne, Schikanen. Er demaskierte die unlauteren Methoden eines Callcenters. Für den Film Schwarz auf Weiß reiste er als Schwarzer durch Deutschland. Für seine RTL-Undercover-Recherche in der Paketzustellerbranche wurde er jüngst für den Deutschen Fernsehpreis nominiert.

Seit den 60er Jahren schlüpft er gekonnt in verschiedene Rollen und nimmt große Strapazen (bis hin zu Gesundheitsrisiken) auf sich, um Ungerechtigkeiten und verbrecherische Machenschaften zu entlarven. Nicht nur der Kampf für die soziale Gerechtigkeit in unserem Land treibt ihn an. 1974 demonstrierte er in Athen für die Freilassung von Oppositionellen, wurde dafür von der Militärdiktatur inhaftiert und gefoltert.

In jüngster Zeit sieht er sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Von Sozialbetrug, Steuerhinterziehung und missbräuchlicher Anwendung eidesstattlicher Erklärungen ist die Rede. Am 13.8.12 berichtete die FAZ unter dem Titel Wallraff am Pranger über diese Anschuldigungen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt immer noch, Aussage steht gegen Aussage. (FAZ 1.10.12) Das Gericht wird klären, ob das alles so stimmt oder nicht.

Unbestritten bleiben die großen Verdienste von Günter Wallraff um die Gerechtigkeit in unserem und anderen Ländern. Danke, Günter Wallraff!