Sonntag, 2. September 2012

Rezension / Buchbesprechung: Die Kapuzinergruft von Joseph Roth

"Wir heißen Trotta. Unser Geschlecht stammt aus Sipolje in Slowenien. Ich sage: Geschlecht; denn wir sind nicht eine Familie. Sipolje besteht nicht mehr, lange nicht mehr. Es bildet heute mit mehreren umliegenden Gemeinden zusammen eine größere Ortschaft. Es ist, wie man weiß, der Wille dieser Zeit. Die Menschen können nicht allein bleiben. Sie schließen sich in sinnlosen Gruppen zusammen, und die Dörfer können auch nicht allein bleiben. Sinnlose Gebilde entstehen also. Die Bauern drängt es zur Stadt, und die Dörfer selbst möchten justament Städte werden. [...]
Im heutigen Österreich und in den früheren Kronländern wird es nur noch wenige Menschen geben, in denen der Name unseres Geschlechts irgendeine Erinnerung hervorruft. In den verschollenen Annalen der alten österreichisch-ungarischen Armee aber ist unser Name verzeichnet, und ich gestehe, daß ich stolz darauf bin, gerade deshalb, weil diese Annalen verschollen sind. Ich bin nicht ein Kind dieser Zeit, es fällt mir schwer, mich nicht geradezu ihren Feind zu nennen. [...]
Der Bruder meines Großvaters war jener einfache Infanterieleutnant, der dem Kaiser Franz Joseph in der Schlacht bei Solferino das Leben gerettet hat. Der Leutnant wurde geadelt. Eine lange Zeit hieß er in der Armee und in den Lesebüchern der k. u. k. Monarchie: der Held von Solferino, bis sich, seinem eigenen Wunsch gemäß, der Schatten der Vergessenheit über ihn senkte. Er nahm den Abschied. Er liegt in Hietzing begraben. Auf seinem Grabstein stehen die stillen und stolzen Worte: `Hier ruht der Held von Solferino.`
Die Gnade des Kaisers erstreckte sich noch auf seinen Sohn, der Bezirkshauptmann wurde, und auf den Enkel, der als Leutnant der Jäger im Herbst 1914 in der Schlacht bei Krasne-Busk gefallen ist. Ich habe ihn niemals gesehn, wie überhaupt keinen von dem geadelten Zweig unseres Geschlechts. Die geadelten Trottas waren fromm-ergebene Diener Franz Josephs geworden." (Textquelle: Projekt Gutenberg)


Mit diesen Worten beginnt Joseph Roth, der am 2. September 1894 in Brody bei Lemberg geboren wurde, seinen Roman "Die Kapuzinergruft". Dieser Rückblick auf die Habsbuger Monarchie erschien erstmals 1938, ein Jahr vor dem Tod des Autors im Pariser Exil. In "Die Kapuzinergruft" erzählt der letzte Trotta seine Lebensgeschichte, eng verwoben mit dem Untergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Der Roman „Die Kapuzinergruft“ ist die Fortsetzung von „Radetzkymarsch“ und spielt in der Zeit um den Ersten Weltkrieg und endet 1938 mit dem "Anschluss" Österreichs.

Franz Ferdinand von Trotta und seine Familie sind am Ende des Krieges verarmt und müssen aus ihrem Wiener Stadthaus eine Pension machen. Alle Versuche von Trottas, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen scheitern. Nach dem Tod der Mutter verkauft Franz Ferdinand die Pension und verbringt sein Leben in den Wiener Kaffeehäusern. Orientierungslos und resigniert sieht er sich einer Nachkriegswelt gegenüber, die er nicht mehr versteht. Mit der Machtübernahme der Nazis in Österreich ist seine Welt endgültig zerstört. Am Ende sucht Franz Ferdinand Zuflucht in der Kapuzinergruft, der Grabstätte der Habsburger. „Wohin soll ich jetzt, ein Trotta?“, will er wissen.

"Die Kapuzinergruft" ist ein zutiefst melancholisches Werk. Der Ich-Erzähler trauert dem Kaiserreich nach, kann mit der Republik nichts anfangen und sieht auch richtigerweise im Anschluss an das Nazi-Reich keine Zukunftshoffnung. Eindrucksvoll beschreibt Joseph Roth den Niedergang einer Familie, die sich ganz und gar dem Dienst an ihrem Kaiser verschrieben hat.

Es handelt sich um eine detaillierte Darstellung der Adelsgesellschaft der Donaumonarchie. Zwar ist von Trotta nicht unsympathisch, doch machen Joseph Roths Ausführungen (ungewollt) deutlich, dass der Lebensstil der alten österreichischen Elite unzeitgemäß, dekadent und unproduktiv war. Ich weiß, dass Roth es anders, nämlich idealisierend zurückblickend, gemeint hat, aber als heutiger Leser kann ich hier nicht folgen.

Roth, Joseph
Die Kapuzinergruft: Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag 2003
ISBN-10: 3423131004
ISBN-13: 978-3423131001
192 Seiten
EURO 7,90

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