Die
Autorin Rachel Joyce hat über 20 Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Auch hat sie Drehbücher geschrieben und selbst geschauspielert.
„Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ ist ihr Erstlingswerk.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Harold Fry. Er ist Pensionär und hat sich sein Leben, zumindest auf den ersten Blick, zusammen mit seiner Frau Maureen übersichtlich und bescheiden eingerichtet. Da erreicht ihn der Brief seiner ehemaligen Arbeitskollegin
Queenie Henessy. Sie schreibt ihm, um sich zu verabschieden, denn sie leidet unheilbar an Krebs. Obwohl er sie Jahrzehnte nicht gesehen hat, ist Harold geschockt. Queenie hatte ihm einst sehr geholfen, seine berufliche Zukunft gerettet, indem sie seine Schuld auf sich nahm und dadurch ihre Arbeit verlor. Danach verschwand sie, und er versuchte nie, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Er schreibt einen Antwortbrief und weiß schon auf dem Weg zum Briefkasten, dass das nicht genug ist. Gewissensbisse quälen ihn, nie hat er seine Dankbarkeit Queenie gegenüber zum Ausdruck gebracht.
An einer Tankstelle sagt eine junge Kassiererin, der er vom Krebsleiden seiner ehemaligen Kollegin und Freundin erzählt, zu ihm: „Man muss glauben. Es geht nicht um Medizin und das ganze Zeug. […] Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen.
Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen.“ (S.23)
Harold beschließt, die 1000 km zum Hospiz nach Berwick upon Tweed zu Fuß zu gehen. Er ruft im Hospiz an und erklärt einer Pflegekraft: „Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg. Sie braucht nur durchzuhalten. Denn ich werde sie retten, wissen Sie. Ich werde laufen, und sie muss weiterleben.“ (S.27 f) Als er einige Wochen später erschöpft aufgeben will, ruft er erneut im Hospiz an und erfährt, dass es Queenie tatsächlich besser geht, dass sie auf ihn wartet: „Ihre Heilmethode ist ziemlich alternativ […] Aber vielleicht braucht die Welt ja genau das:
ein bisschen weniger Vernunft und ein bisschen mehr Glauben.“ (S.236) Also geht er weiter.
Die
Wanderung ist die Rahmenhandlung, in die weitere Handlungsstränge eigebettet sind. Es geht nämlich nicht alleine um die Frage, ob Harold Queenie mit seiner Wanderung tatsächlich retten kann, es geht darum,
dass Harold zu sich selbst findet. Auch begegnet er unterwegs Menschen, an deren Schicksal er Anteil nimmt. Der Leser erfährt viel über diese Menschen. Sie begegnen dem Wanderer und damit auch dem Leser schonungslos ehrlich, denn die „Menschen konnten ungezwungen mit ihm reden [… und er konnte e]in wenig von ihrer Last mitnehmen, wenn er wieder ging.“ (S.111) Diese Wanderung bringt den Pensionär immer wieder an seine physischen Grenzen, aber auch seine psychische Belastung steigt immer weiter an.
Harold stellt sich auf dem langen Weg durch England seinem eigenen Leben, und das ist der Haupthandlungsstrang dieses Buches. Unterwegs hat Harold
endlich einmal Zeit für eine Reise zu sich selbst und in seine Vergangenheit. Es ist traurig, was der Leser erfährt über diesen unscheinbaren Menschen, der ein so unscheinbares Leben führt. Es kommen „Erinnerungen hoch, die er am meisten fürchtete. Sonst konnte er sie doch immer so gut unterdrücken.“ (S.157) Ein trunksüchtiger Vater, mit Depressionen aus dem Kriege heimgekehrt, eine Mutter, die den Sohn zurücklässt. Das war Harolds triste Kindheit und Jugend. Das Schweigen in seinem Elternhaus nahm er dann mit in die eigene Familie.
Sein Sohn David ist ihm total entfremdet, da Harold während dessen Kindheit und Jugend nie gefühlvolle Anteilnahme am Leben seines Sohnes ausdrücken konnte. Der Heranwachsende deutete dies falsch und mied seinen Vater, ja verachtete den unscheinbaren Mann, der ihn doch - immer noch! - so sehr liebt.
Nur Maureen spricht noch mit David ...
Maureen und Harold leben schon 20 Jahre mehr nebeneinander als miteinander, sie ist sogar aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen. Maureen gibt ihm die
Schuld am familiären Desaster. Maureen nutzt die Zeit der Abwesenheit von Harold, um sich über die Vergangenheit und ihre Ehe klar zu werden. Ein für den Leser immer wieder interessanter Perspektivenwechsel. Zwei Menschen, die nebeneinander daher leben, und doch zutiefst verbunden sind und es so, wie es gekommen ist, nie gewollt haben. Beide denken an die verpassten Chancen. Harold
„sah die Fehler, die Widersprüche, die falschen Entscheidungen, und konnte doch nichts dagegen tun.“ (S.193) Seiner Frau geht es genauso, so dass die anfangs kühlen Telefonate sukzessive persönlicher werden und sie ihm sogar nachreist, um ihm zu gestehen: „Ich vermisse Dich, Harold.“ (S.296) Als er, fast am Ziel angekommen, aufgeben will, ist es schließlich Maureen, die ihn zum Durchhalten motiviert. Die Distanz und die Möglichkeit der ungestörten Reflexion hat eine
Versöhnung und eine Abkehr von der Entfremdung bewirkt. Die verloren gegangene Nähe ist nun wieder hergestellt.
Es ist ein trauriges Leben, über das Harold auf seiner Wanderung nachdenkt. Und der Leser ist gespannt, wie Harolds innere Reise enden wird. Dabei ist es keine spektakuläre Spannung, sondern
das ganz normale Leben eines ganz normalen Menschen, das hier fasziniert. Es ist nachvollziehbar, es deckt sich mit unserer Lebenserfahrung.
Was verbindet Harold mit Queenie? Wird er sie lebend antreffen? Was hat es damit auf sich, dass er seit 20 Jahren keinen Kontakt zu seinem Sohn mehr hat? Kann der die Beziehung zu seiner Frau heilen und erneuern? Wen treffen wir gemeinsam mit Harold auf dem Weg der Selbsterkenntnis? Das sind die Fragen, die sich der Leser immer wieder stellt.
Erst am Ende des Buches, in einem langen Brief an das junge Mädchen von der Tankstelle, erfahren wir das ganze Ausmaß dieser familiären Tragödie. Mit diesem Brief geht das Tankstellen-Mädchen zu Maureen, so dass der Leser die Ereignisse auch aus ihrer Perspektive kennen lernt.
Es ist unvermeidlich, dass die Presse sich des Themas annimmt. Ganz England kennt bald Queenie und Harold. Die Folge: Zu Harold stoßen Mitwanderer, und die Gruppe wird nun überall erwartet. Aber auch Konflikte innerhalb der Gruppe bleiben nicht aus, so dass Harold nicht unglücklich ist, dass auch diese Episode eines Tages vorüber ist und er sich wieder alleine auf den Weg machen kann: „Es war für Harold eine Erleichterung, wieder alleine zu laufen. [… E]s gab keine Diskussionen, keine Streitereien. […]
Maureen, Queenie und David waren seine Begleiter.“ (S.315) Gerade an dieser Stelle wird offenbar, dass die Autorin hier wohl eine Idee aus dem Film „Forrest Gump“ entlehnt hat.
Zwei Jahrtausende war das Pilgern eine religiöse Verpflichtung, mit Beginn der Neuzeit verlor diese Tradition an Bedeutung. In den letzten Jahren gibt es eine Renaissance (ein prominentes Beispiel: Hape Kerkeling). Die Motivation der Wandernden ist sehr heterogen. Die wenigstens begeben sich auf eine klassisch-religiöse Wanderung, sondern eher, wie Harold Fry, auf eine Reise zu sich selbst. Immer wieder wird im Buch deutlich gesagt, dass es keinen religiösen Hintergrund gibt. Es geht um das Wandern, das Alleine-Sein und das Zeit-Haben. In der freien Natur werden auch die Gedanken frei und die Konventionen oder besser: Blockaden fallen ab. So verschenkt auch Harold ungefähr auf halbem Weg alles, was er hat, schickt seine Kreditkarte an seine Frau und verlässt sich auf die Hilfsbereitschaft seiner Mitmenschen. „Er erzählte die Geschichte von Queenie und dem Tankstellenmädchen und bat Fremde, ob sie so gut wären, ihm zu helfen. Als Gegenleistung hörte er ihnen zu.“ (S.245)
„Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“
ist eine zutiefst traurige Geschichte, die einem in ihren Bann zieht. Man lernt die Protagonisten auf ihrem Weg tatsächlich kennen und schätzen. Es sind lebendige Figuren, die einem nahe kommen wie wirkliche Menschen. Ich wollte stets wissen, wie es weitergeht und wie es ausgeht, ob es zur Versöhnung kommt.
Die Sprache ist schlicht literarisch und sehr überzeugend. Die Autorin hat sich entschieden, diese traurige Geschichte in einer
nicht zu emotionalen, sondern einer sachlich-beschreibenden Diktion zu erzählen. Rachel Joyce ist auch die Gratwanderung gelungen, nicht zu viel Distanz und nicht zu wenig Nähe zu den Protagonisten entstehen zu lassen. Ein professioneller Umgang mit Sprache! Kurze Sätze, keine Verschachtelungen, treffende und knappe Beschreibungen, kein intellektueller Gestus –
kurzum, einfach gut lesbar.
Es ist ein wahrhaftiges Buch. Die Autorin hat ihre eigene Traurigkeit in das Werk übertragen, deshalb erscheint beim Lesen alles so real, so nachvollziehbar. Als Rachel Joyce diesen Roman schrieb, rang ihr krebskranker Vater in einem Hospiz mit dem Tod. Sie sagte in einem Interview mit The Guardian: „Im Nachhinein betrachtet, war das Buch der Versuch, meinen Vater am Leben zu halten.“ Kurz vor der Fertigstellung des Romans ist er gestorben. (Zitiert nach:
The Guardian)
Joyce, Rachel
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
378 Seiten
Fischer Verlag 2012
ISBN: 978-3-8105-1079-2
Hardcover 18,99 €