Auf einer der Inseln haben die Ratten, die 100 Jahre zuvor nach einem Schiffbruch auf die Insel kamen, die Herrschaft über die heimische Tierwelt übernommen. Die Biologin Alma Boyd will das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht bringen. Alma ist Sprecherin des National Park Service der kalifornischen Kanalinseln und will die Ratten auf der Insel Anacapa vergiften lassen, damit die einheimischen Vogelarten wieder eine Überlebenschance haben.
Boyle schildert Alma als sympathische Ökologin deren größtes Anliegen es ist, das Gleichgewicht in der Natur wieder herzustellen, was für sie gleichbedeutend ist mit dem Ursprungszustand vor dem Eingriff des Menschen. Der Leser erfährt, dass sie einst auf der Insel Guam im Kampf gegen die invasive Baumnatter unterlag. Umso ambitionierter betreibt sie nun die Vernichtung der Ratten auf Anacapa.
Ihr Gegenspieler heißt Dave LaJoy, ein fanatischer Tierschützer, der auch das Töten von Ratten strikt ablehnt. Man geht nicht gerade zimperlich miteinander um. Alma stellt ihr Vorhaben auf einer Versammlung vor, Dave fällt ihr ins Wort. Sie nennt ihn in Gedanken einen SA-Mann, er vergleicht ihr Vorhaben mit dem Genozid der Nazis.
Boyle beschreibt Dave als unangenehmen, verbohrten Menschen. Wir begegnen einem militanten Tierschützer, der beim kleinsten Anlass jähzornig wird und nicht gerade zimperlich mit seinen Mitmenschen umspringt. „[S]eine Sympathien gehören eben den Tieren, die gar keine Wahl haben“, während er zum Beispiel Obdachlose für „aufrecht gehende Primaten“ hält, die sich ihr Schicksal selbst gewählt haben. (S.92)
„Mit einemmal lodern Hass, Wut und Frustration aus seinem Bauch empor bis zu den Haarwurzeln…“ (S.267) Besser lässt sich Daves Gefühlslage nicht auf den Nenner bringen.
In seinem Fanatismus ist der Tierschützer hart im Nehmen. So will er mit Gesinnungsgenossen zusammen, den Ratten auf Anacapa ein Vitaminpräparat verabreichen, das diese gegen das Gift immunisiert. Dabei stürzt er über einen Klippenvorsprung. Trotz großer Schmerzen erzählt er seinen Begleitern nichts davon. Diese Episode wiederholt sich auf Santa Cruz. Nur das dieses Mal eine junge Aktivistin abstürzt und dabei ums Leben kommt.
Alma und Dave kennen sich auch privat. Sie haben sich eines Tages, lange vor ihrer quasi professionellen Konfrontation, bei einem Konzert kennengelernt und wollten gemeinsam essen gehen. Doch Dave hatte einer seiner Wutausbrüche und behandelte die Kellner derart arrogant und aggressiv, dass ihn Alma einfach angewidert stehen ließ.
Überrascht erkennt man beim Lesen, das der unsympathische Dave, selbst in seinem abstrusen Tun und seinem Fanatismus, eine viel lebendigere Figur ist als seine Gegenspielerin, die oberflächlich gezeichnet und wenig authentisch erscheint.
In den beiden Personen stehen sich die moralische Vorstellung von „Du sollst nicht töten“ und die Wissenschaft unversöhnlich gegenüber. Doch haben beide gute Argumente, die für ihre jeweilige Ansicht sprechen. Wer bestimmt, welcher Zustand der ursprüngliche, der richtige ist? Dave ruft Alma zu: „Welche Welt wollen Sie wiederherstellen? Die von vor hundert Jahren? Tausend? Zehntausend?“ (S.85)
Über zwei Jahre nach den Ereignissen auf Anacapa beginnt alles von neuem: „Die Ratten waren tot, die Ratten waren Geschichte. Die nächsten auf der Liste waren die Schweine.“ (S.162) Auf der benachbarten Insel Santa Cruz sind die Schweine die invasive Art. Alma will die Schweine ausrotten, Dave will sie retten. Durch diese Wiederholung ergeben sich ein paar Längen, die aber durch Sprachgewalt des Autors durchaus ausgeglichen werden. Nie hatte ich den Gedanken, das Buch nicht bis zum Ende zu lesen!
Im Mittelpunkt steht stets die Geschichte der Konfrontation. Um dieses tragende Element herum webt Boyle meisterhaft Verbindungserzählungen. So erlitt einst die Großmutter von Alma Schiffbruch auf Anacapa, während die Großmutter der Lebensgefährtin von Dave auf Santa Cruz Schafe züchtete. Die hierfür notwendigen Rückblenden sind meisterhaft in den Erzählfluss eingefügt. Auch das Privatleben der Protagonisten, z.B. Almas Schwangerschaft, wird immer wieder beleuchtet und in Boylescher Manier detailliert, aber nie langweilig erzählt.
Ein lesenswertes, gut geschriebenes und sicherlich bezüglich der ökologischen Zusammenhänge sehr intensiv recherchiertes Buch, das dem Leser selbst die Entscheidung zwischen Daves und Almas Lösungsweg überlässt. Eine Erkenntnis, die nicht nur auf der Lektüre des Romans beruht, sondern die Boyle selbst in einem Interview mit dem Kulturmagazin Cicero vom 22.1.12 untermauert:
„Das Problem ist, dass beide auf ihre Weise Recht haben. Dave ist zwar in jeder Hinsicht ein ziemlich unangenehmer Typ, hat aber ein unanfechtbares Gesetz auf seiner Seite: Du sollst nicht töten. […] Alma, die rationaler ist als Dave und von der Thematik sehr viel mehr versteht, argumentiert andererseits sehr plausibel, weshalb es im Sinne des Ökosystems ist, die Ratten zu vernichten, um auf diese Weise nahezu ausgestorbenen Vogelarten ihren angestammten Lebensraum zurückzugeben. Sie spielt gewissermaßen ein wenig Gott, und die ethische Frage, die sich daraus ergibt, muss jeder Leser für sich selbst beantworten.“
Boyle, T.C.
Wenn das Schlachten vorbei ist
Hanser 2012
464 Seiten
ISBN-10: 3446237348
ISBN-13: 978-3446237346
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