Auf die Abbildung klicken ... |
Der britische Historiker und einer der diesjährigen Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung Ian Kershaw hat eine Gesamtdarstellung vorgelegt, die eine vielschichtige Antwort auf die Frage gibt, "wie das Regime, das auf allen Seiten zerrissen wurde, weiter operieren konnte, bis die Rote Armee vor der Reichskanzlei stand". (Seite 36)
Der Autor stellt die Geschehnisse im Zeitraum des Attentats vom 20. Juli 1944 bis zur bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 dar. Ein wesentliches Ergebnis von Stauffenbergs gescheitertem Anschlag auf Hitler war die Machtumverteilung im untergehenden Dritten Reich. Himmler, Speer, Bormann und Goebbels wurden die mächtigsten Männer in Deutschland. Diese vier erzwangen und ermöglichten mit ihren gewaltigen organisatorischen Apparaten das Durchhalten bis zum bitteren Ende. Ihre Instrumente waren Organisationsgeschick, Manipulation und blanker Terror. Insbesondere Speer, so hebt Kershaw hervor, hat die Fortsetzung des Krieges materiell möglich gemacht. Kershaw charakterisiert dieses Quadrumvirat folgendermaßen: „drei der rabiatesten und radikalsten Fanatiker, der Vierte ein ehrgeiziges, machthungriges Organisationsgenie“. (S.536) Auch die militärischen Führer kommen nicht gut weg: „Die Generäle waren keineswegs bloße Werkzeuge Hitlers … Sie handelten aus Überzeugung und taten, was in ihrer Macht stand, um ihre Soldaten zu größeren Anstrengungen zu treiben … [Sie waren] in Wirklichkeit doch das wichtigste Element des sterbenden Regimes.“ (Seite 371)
Kershaw zeigt die Strukturmerkmale der NS-Herrschaft auf: Alle Macht im Deutschen Reich beruhte auf der „höheren Autorität des Führers … Hitlers Macht, so viel war klar, würde bis zum Ende halten.“ (Seite 406) Er zeigt, wie klar es den in die Verbrechen verstrickten Parteigängern Hitlers war, dass das Ende des Krieges unweigerlich ihr eigenes Ende bedeuten würde. Besonders die Gauleiter taten sich als fanatische Antreiber hervor, die sich aber dann selbst oft feige davonmachten, nachdem sie viele geopfert hatten. Insbesondere im Osten wurde von ihnen die rechtzeitige Evakuierung der Zivilbevölkerung verhindert.
Präzise und knapp erläutert Kershaw die militärischen Ereignisse an der West- und Ostfront. Dabei zeigt er, wie an der Ostfront die Angst vor dem Feind zum Weiterkämpfen motivierte. Man wusste schließlich, was man dem russischen Volk während des Krieges angetan hatte und fürchtete – zu Recht, wie sich bald herausstellte – die grausame Rache der Sieger.
Der Autor beschreibt den Alltag in einem Land mit zerstörter Infrastruktur, in welchem weder die Post noch die Eisenbahn oder gar die Lebensmittelversorgung funktionierten. Er beschreibt den zunehmenden Zerfall bis hin zu den Endzeit-Exzessen im zerstörten Berlin.
Geschildert werden auch aufkeimende Hoffnungen nach der Ardennenoffensive und der Glaube an die Wunderwaffen. Viele teilten auch die Ansicht, durchhalten zu müssen, bis die Koalition der so ungleichen Feinde brechen würde, um dann gemeinsam mit den Westmächten gegen die Sowjetunion weiterkämpfen zu können.
Kershaw zeichnet das Bild eines kriegsmüden Volkes, das um die Niederlage wusste, aber zu schwach war, um sich zu erheben. Der Kampf ums eigene Überleben sei für die meisten Deutschen, auch für die Soldaten, das tragende Motiv gewesen. Dazu gehörte dann eben auch, dass man sich nicht gegen das Regime stellte, das in seinem Todeskampf wild um sich schlug und jeden erbarmungslos vernichtete, den es für illoyal hielt. Lieber abwarten und durchhalten bis zum Ende … und überleben. Denn Gauleiter, Kreisleiter, Ortsgruppenleiter, Blockwarte, Polizei, SS, Gestapo, Standgerichte - der Terror hatte viele Helfer und willige Vollstrecker.
Der Autor hat ein überzeugendes Gesamtwerk zum Untergang des Dritten Reiches vorgelegt. In einer klaren und nüchternen Sprache erzählt er, was sich im letzten Dreiviertaljahr des Regimes abspielte. Er stellt die Geisteshaltung der Akteure dar, er beschreibt heterogene Motivationslagen, er erklärt, warum es zu einer totalen Niederlage kam. Vieles davon ist bereits in anderen Werken beleuchtet worden. Kershaws Verdienst ist es, die Mosaiksteinchen zusammengefügt und fehlende Teile rekonstruiert oder zugefügt zu haben. „Das Ende“ ist ein auch für Nicht-Historiker gut lesbar geschriebenes Werk.
Besonders beeindruckend sind aber die zitierten Quellen: neben den Berichten des Sicherheitsdienstes auch Tagebücher und Briefe. Gerade die sehr persönlichen Stellungnahmen zeigen dem nachgeborenen Leser, in welcher Ausnahmesituation sich die Zeitgenossen befanden. In einem Zustand der immerwährenden Bedrohung durch den Tod. Dabei versäumt Kershaw auch, nicht angesichts des geschilderten Elends der Flüchtlinge und der Ausgebombten immer wieder klar zu stellen, wer verantwortlich war für diese Katastrophe, wo diese Katastrophe des 20. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm. Nur so lange die Deutschen durchhielten, konnte das Regime auf den Todesmärschen und in den Lagern seine Opfer hinschlachten.
Kershaw, Ian
Das Ende
Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45
DVA Sachbuch 2011
704 Seiten, mit Abbildungen
ISBN 978-3-8389-0194-7
Das Ende
Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45
DVA Sachbuch 2011
704 Seiten, mit Abbildungen
ISBN 978-3-8389-0194-7