Warum reist sie dann mit ihrer älteren Schwester durch Bulgarien?
Das liegt an Alexander Tabakoff, einem reichen Bulgaren, der die sterblichen Überreste von in Stuttgart verstorbenen Exilbulgaren in die alte Heimat überführen lässt. Dreizehn Limousinen fahren von Stuttgart nach Ancona, von dort mit der Fähre nach Bulgarien und weiter nach Sofia. Einer der Toten ist Kristo, der Vater der beiden Schwestern, der sich bereits vor vielen Jahren erhängt hat. Nach der Bestattung der Urnen auf dem Zentralfriedhof in Sofia beschließen die Ich-Erzählerin und ihre Schwester, noch ein paar Tage in Bulgarien zu bleiben, und Rumen Apostoloff zeigt ihnen sein geliebtes Bulgarien.
Bulgarien und Vater, das sind eins: „Vaterhass und Landhass“ gehören für die Ich-Erzählerin zusammen.
Während der Reise erfährt der Leser Details aus der bulgarischen Geschichte und Gegenwart: von der osmanischen Besatzung über das Bündnis während beider Weltkriege mit Deutschland sowie die Zerstörung des Landes durch das Sowjetsystem bis hin zu den Problemen in der postkommunistischen Ära. Gleichzeitig wird die Familiengeschichte erzählt: wie der Vater 1943 nach Deutschland kam, dort eine Schwäbin heiratete, sein Studium beendete und als Gynäkologe tätig war. Dabei geht es in erster Linie um die Abrechnung einer Tochter mit ihrem toten Vater, der überdies immer wieder geisterhaft erscheint und noch den Strick um den Hals trägt. Der Selbstmord des Vaters wird als Im-Stich-Lassen gedeutet. Und die Tochter kann ihm dies nicht verzeihen.
Sibylle Lewitscharoff offenbart in diesem Roman viel Autobiographisches: von der deutsch-bulgarischen Abstammung und der Degerlocher Kindheit über ihre eigene trotzkistische Phase bis hin zum Selbstmord des Vaters, als sie elf Jahre alt war. Übrigens ziert der bulgarische Pass des Vaters der Autorin als Collage den Buchumschlag.
Die Handlung läuft nicht chronologisch, die Handlungsfäden werden nicht geradlinig gesponnen. Wie zwischen den Zeitebenen springt die Ich-Erzählerin auch zwischen der Landes- und der Familiengeschichte hin und her. Durchgängig bleibt indes der satirische Grundton, der auch vor brutalem Spott und Hohn nicht zurückschreckt. Der Rezensent der Taz nennt den Sprachstil eine "Vernichtungs- und Wortmaschinerie" und hat damit meiner Meinung nach genau getroffen.
Apostoloff ist eine schonungslose Abrechnung mit Familie und Herkunftsland und geprägt von Elementen der schwarzen Komödie. Angesichts des autobiographischen Hintergrunds ist Apostoloff zugleich ein ungemein ehrlicher Roman. Die Wort- und Satzkonstruktionen sind exzellent und begeistern. Aus gutem Grund hat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis 2013 an Sibylle Lewitscharoff verliehen.
Lewitscharoff, Sibylle
Apostoloff
248 Seiten
Suhrkamp Verlag; 6. Auflage 2010
ISBN-10: 351846180X
ISBN-13: 978-3518461808
8,99 EURO
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