Mittwoch, 4. September 2013

Nein, kein moderner Simplizissimus, nur ein Opportunist, der sich verrechnet hat.

Der Roman Ein weißes Land von Sherko Fata beginnt im Irak der zwanziger und dreißiger Jahre. Ein Land , das dabei ist, sich nach dem Untergang des Osmanischen Reichs selbst zu finden und unter britischer Mandatsherrschaft steht. 

Dem Straßenjungen Anwar sind die politischen Zusammenhänge fremd, allerdings versucht er die Veränderungen, die er mehr spürt als versteht, zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Er will im Leben vorankommen, er will in den „Schönen Häusern“ (so sind zwei Teile des Romans betitelt) leben: „Ich muss nicht einer jener vielen überflüssigen jungen Männer bleiben, die in Bagdad die Straßen säumten, vor Geschäften herumlungerten oder an den Straßen auf jemand warteten, der ihnen Arbeit für ein paar Stunden gab.“

Die Ich-Erzähler-Perspektive macht den Leser mit der inneren Verfassung des Antihelden Anwar und seiner opportunistischen Grundhaltung, die keine moralischen Prinzipien kennt, vertraut. So bleibt auch die dunkelste Regung Anwars nicht verborgen.



Da Anwar zwar mit einer gewissen Bauernschläue ausgestattet ist, die ihm immer wieder hilft, gefährliche Situationen zu meistern, es ihm aber an Intellektualität mangelt, schließt er sich Führern oder besser Verführern an

Zunächst ist da Ezra, der Sohn eines reichen jüdischen Kaufmanns, der ihn in Kreise der Kommunisten und Zionisten einführt. Diese Ideenwelt ist Anwar zu kompliziert, auch sieht er hier keinen Vorteil für sein Vorankommen. Schnell wird er zum gelehrsamen Schüler Maliks, dem Anführer einer Bande von Kriminellen, die sich mit Diebstählen, aber auch mit Auftragsmorden über Wasser hält. Malik positioniert Anwar als Diener im Offizierscasino von Bagdad, dem Treffpunkt der antibritischen und zugleich antisemitischen Offiziere der irakischen Armee. Es währt nicht lange und Anwar wechselt die Seiten und verrät seinen Ziehvater Malik an Oberst Nidal, einen skrupellosen Machtmenschen, der sich Malik und seiner Bande für kriminelle Geschäfte bediente und nun den lästigen Mitwisser ermorden lässt. Loyalität und Prinzipientreue, das ist nichts für Anwar.

Sherko Fatah liest aus "Ein weisses Land"
(Quelle: YouTube)

Über Nidal kommt er mit dem Großmufti von Jerusalem, dem die Befreiung der arabischen Welt mit Hilfe des Dritten Reichs vorschwebt, in Kontakt und wird zu dessen Diener. Er anerkennt diesen hasserfüllten Antisemiten als seinen Führer und schläft sogar in hündischer Ergebenheit auf dessen Türschwelle. Die politische Einstellung des Großmufti ist denkbar simpel: „Nur die Deutschen können uns die Unabhängigkeit geben und nur sie können die Juden ins Meer treiben, die immer weiter daran arbeiten werden, die arabische Nation zu untergraben.“

Als der antibritische Aufstand in Bagdad scheitert, folgt Anwar dem Großmufti nach Berlin. Obwohl der Großmufti und seine Umgebung bald erkennen müssen, dass das Dritte Reich den Krieg verlieren wird, schickt er Anwar zur Waffen-SS. Dieser dient in einer islamischen Division, die aus Aserbaidschanern, Türken, Usbeken und Tataren besteht. In der Ukraine und Weißrussland, im „weißen Land“, bekämpfen die Moslems in den Uniformen der Waffen-SS Partisanen und ermorden unzählige Zivilisten in sogenannten Vergeltungsaktionen. Am Ende werden die jungen Männer auch bei der grausamen Niederschlagung des Warschauer Aufstandes eingesetzt.

Dass er rein gar nichts gelernt hat aus diesen Erlebnissen, zeigt sich als er 1955 in Bagdad sich wieder von Oberst Nidal und einem ehemaligen SS-Arzt instrumentalisieren lässt. Hatte man vorher noch bedingtes Verständnis für diesen Antihelden, bleibt angesichts dieser Uneinsichtigkeit nur noch entsetztes Kopfschütteln übrig.

In der Rezension des Cicero wird „Ein weißes Land“ als Schelmenroman und Anwar als neuer Simplizissimus beschrieben: „Anwar ist ein Simplicissimus des 20. Jahrhunderts, der wie sein historischer Vorgänger durch seine Epoche stolpert, ohne sie auch nur ansatzweise zu begreifen.“ Das ist eindeutig falsch. Simplicissimus "stolperte" einst ungebildet und naiv durch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und musste viel erleben und erleiden, bis seine Naivität überwunden war. Bei Anwar steht von Anfang an das Kalkül im Vordergrund. Er will Erfolg haben, auch wenn er einen Pakt mit dem Teufel schließen muss.

Zwar fehlt es diesem Antihelden an Bildung, aber nicht an intelligenten Grundeinsichten. Als eines Tages im Umfeld des Großmufti über die jüdische Weltverschwörung, die von „Konjunkturjuden, Finanzjuden und Ghettojuden“ gleichermaßen geplant vorangetrieben werde, diskutiert wird, stellt einer die zweifelnde Frage: „Wie können all diese Menschen das gleiche wollen?“ Anwar erkennt deutlich die Berechtigung dieser Frage, doch trotz besseren Wissens bleibt er seinem antisemitischen Anführer ergeben.

Allerdings gibt es auch eine emotionale Konstante in Anwars Leben, die nicht Opfer seines Opportunismus wird: Seine unerfüllte Liebe zu Mirjam, der Schwester von Ezra. Selbst in Berlin und an der Ostfront erhält er noch Briefe von ihr, was ihn gegenüber seiner antisemitischen Umgebung in Erklärungsnöte bringt. Die Liebe zur Jüdin hindert ihn auch nicht, Handlanger des Holocaust zu werden.

Der Autor, Sherko Fatah, wurde 1964 als Sohn einer Deutschen und eines irakischen Kurden in Ostberlin geboren. Er ist in der DDR, Wien und Westberlin aufgewachsen und besuchte oft die Heimat seines Vaters. Für seinen Debütroman Im Grenzland erhielt er 2001 den aspekte-Literaturpreis.

Fazit: „Ein weisses Land“ ist ein spannend zu lesender Abenteuerroman. Zum einen wird ein weitgehend unbekanntes Stück Weltgeschichte thematisiert, zum anderen wird ein zeitlos gültiger Opportunismus dargestellt, der letztendlich scheitert. Ein sehr lesenswerter Anti-Entwicklungsroman.

Sherko Fata
Ein weißes Land
480 Seiten
Luchterhand Literaturverlag (12. September 2011) 
ISBN-10: 3630873715
ISBN-13: 978-3630873718
EURO 21,99





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen