Freitag, 5. Oktober 2012

Krieg, Krimi, Freundschaft: Rezension zu Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus


Der Roman „Das Alphabethaus“ ist Jussi Adler-Olsens Erstlingswerk und in seiner Heimat Dänemark bereits 1997 veröffentlicht worden. Bei uns erschien das Buch erst 2012, also nach seinen drei Erfolgsromanen „Erbarmen", „Schändung" und „Erlösung".

Der erste Teil des Buches spielt im Kriegsjahr 1944. Zwei britische Piloten, Freunde seit der Schulzeit, werden über Nazi-Deutschland abgeschossen. James und Bryan werden von Suchmannschaften verfolgt, aber es gelingt ihnen zu entkommen, indem sie auf einen Lazarettzug aufspringen. Sie nehmen die Identität zweier hochrangiger SS-Schergen an. Sie werfen die beiden Schwerverwundeten aus dem Zug und nehmen deren Plätze in den Krankenbetten ein. 



Kaum der deutschen Sprache mächtig täuschen sie psychische Krankheiten vor, um nicht sprechen zu müssen,  und werden in ein in der Nähe Freiburgs gelegenen Sanatorium für psychisch kranke  Militärangehörige eingeliefert. Im Alphabethaus, so genannt, weil die Insassen über Buchstabencodes in Kategorien eingeteilt werden, tun James und Bryan alles dafür, um als „verrückt“ zu gelten. 


Doch dann stellen sie fest, dass sie nicht die einzigen Simulanten im Alphabethaus sind. Drei hohe SS-Offiziere und skrupellose Kriegsverbrecher haben sich hierher gerettet, um den Krieg unbeschadet zu überstehen. In der Sowjetunion waren sie nicht nur an Massakern der Einsatzgruppen beteiligt, sondern haben sich auch ein Vermögen zusammengerafft, das sie nach dem Krieg genießen wollen. Einer von ihnen war sogar Kommandant eines KZ, bevor er an die Front versetzt wurde. Die Simulanten quälen die anderen Insassen, ermorden andere Simulanten, damit niemand ihr Geheimnis verrät, und argwöhnen, dass auch mit James und Bryan etwas nicht stimmt. Das Leben der beiden britischen Piloten gerät dadurch in allergrößte Gefahr. Für James beginnt ein Jahrzehnte andauerndes Martyrium.

Schreckliches passiert in der Heilanstalt für psychisch Kranke: Elektroschocks, Versuche mit Psychopharmaka, sadistische Behandlung durch das Pflegepersonal, Liquidation von erkannten Simulanten vor aller Augen. Das Buch spielt in einer Zeit, als in Deutschland ein Menschenleben nichts galt.

Adler-Olsen kennt ganz genau die Atmosphäre einer Heilanstalt. Er hat als Sohn eines Psychiaters einen großen Teil seiner Kindheit in derartigen Einrichtungen verbracht. Er selbst sagt darüber:
„Aber Sie können sich nicht vorstellen, was ich in diesen Kliniken alles gesehen habe. Ich sah schreiende und tobende Patienten, entdeckte einige, die sich im Wald an Bäumen erhängt hatten, und beobachtete im Sommer, dass als gefährlich eingestufte Insassen wie Tiere in offenen Käfigen ausharren mussten. Manchmal schlich ich mich in die Behandlungszimmer und versteckte mich. So konnte ich zusehen, wie mit Elektroschocks behandelt wurde. Durch ein Dachfenster habe ich sogar bei Autopsien zugeschaut.“ (Quelle: BZ Interview
Deshalb wirkt die Beschreibung des Alltags in der Heilanstalt auch so authentisch.

Bryan gelingt nach 10 grausamen Monaten die Flucht aus der Klinik, aber er muss den durch die Medikamente und Elektroschocks lethargisch gewordenen James zurücklassen. Bryan hat erfahren, dass er „hohen“ Besuch aus Berlin zu Weihnachten bekommen soll und weiß, dass dann alles ans Tageslicht kommen würde. Die Front ist inzwischen so nahe an Freiburg herangerückt, dass man die Mündungsfeuer der Artillerie bereits erkennen kann. Also rettet er sich zu den Alliierten Linien.

Jahrzehnte später, im Jahr 1972, begibt er sich auf die Suche nach seinem Freund. Immer wieder hatte er zuvor schon Detektive beauftragt, nach seinem Freund zu suchen, aber stets ohne Ergebnis. Auch glaubt er, dass James möglicherweise bei einem Bombenangriff umgekommen ist. Die Royal Air Force hatte nach den Schilderungen von Bryan beschlossen, die Klinik zu zerstören. Denn gegen Ende des Krieges schickte das Regime jeden an die Front, der ein Gewehr halten konnte, und SS-Führer - so das alliierte Kalkül - wollte man vorher töten. Ein Lazarett zu bombardieren, bleibt allerdings eher eine fragwürdige Art der Kriegsführung. 


Bryan lässt es keine Ruhe, dass er James im Stich gelassen hat. Er hat inzwischen Medizin studiert und ist durch den Vertrieb von medizinischen Artikeln reich geworden.In München ist er als Berater bei den Olympischen Spielen tätig und reist nun persönlich nach Freiburg . Aber nicht nur sein Freund Bryan ist noch am Leben, auch die Nazi-Schergen haben überlebt. Im zweiten Teil nimmt der Roman deutlich an Fahrt auf. Der Leser wird Zeuge einer grandiosen Abfolge von Aktionen und Reaktionen.

Obwohl ein Großteil des Buches in der Kriegszeit spielt, ist „Das Alphabethaus“ jedoch kein Kriegs- oder Antikriegsroman. Es geht vielmehr um die Freundschaft zweier Männer, die das Schicksal trennt. Es geht um Ohnmacht angesichts einer gnadenlosen, brutalen Welt und um nie enden wollende Gewissensbisse, weil man aus reinem Selbsterhaltungstriebe einen anderen im Stich gelassen hat. Aber es geht auch um eine erstaunliche Liebesbeziehung zwischen der Krankenschwester Petra und James, die drei Jahrzehnte unerfüllt und sprachlos bleibt.

Zahlreiche Rezensenten bewerten diesen Roman äußerst negativ. Die einen, weil sie sich eine Art Kommissar Carl Mørck-Geschichte erwarten. Die anderen, weil sie die Geschichte für zu konstruiert halten und Adler-Olsen einige historische Fehler nachweisen. Ich habe den Roman dennoch gerne gelesen. Fand die Story spannend und den historischen Background durchaus glaubwürdig. Zugegeben, dass der Autor den Luftangriff auf Freiburg in den Januar 1945 verlegt, ist ein Fehler, der nicht hätte unterlaufen dürfen. Aber der Alltag unterm Hakenkreuz und während des letzten Kriegsjahres ist atmosphärisch gut erfasst. Die Zerrissenheit der Menschen zwischen Humanität und Regimetreue sowie das Mitläufertum und Wegsehen der vielen und die brutalen Verbrechen der viel zu vielen sind überzeugend in die Handlung eingeflochten. Und ist es nicht auch traurige Wirklichkeit, dass zahlreiche Nazi-Täter nach dem Krieg in der Bundesrepublik zu hohem Ansehen gelangt sind und als geachtete Bürger weiterlebten? War nicht Freiburg der Altersruhesitz eines von Hitlers Richtern, der es in der Bundesrepublik weit gebracht hatte?

Die Konstruktionen sind m.E. statthaft, denn sie sind keineswegs zu übertrieben, sondern moderat, eben die Handlung vorantreibend. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, einen Krimi, ein Freundschaftsdrama.

Alternativvorschlag: Zwei englische Piloten werden nach ihrem Absturz in ein Gefangenenlager transportiert oder vom aufgepeitschten Nazi-Mob gelyncht. Das wäre zwar realistischer, aber nicht der Stoff für eine spannende Lektüre. Und das ist „Das Alphabethaus“ ganz ohne Zweifel!



Adler-Olsen, Jussi
Das Alphabethaus
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess und Marieke Heimburger
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012
592 Seiten
ISBN-10: 3423248947
ISBN-13: 978-3423248945
15,90 Euro.

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