Im Mai 2012 gab Altenburg der Zeitung „Junge Welt“ ein Interview. Unter anderem wurde er gefragt, warum er eine leicht gekürzte Fassung seines Blogs in Buchform erscheinen lasse. Seine Antwort: „Ich bin wahnsinnig stolz darauf, dieses Buch in den Betrieb geschmuggelt zu haben. Jetzt ist es da, und man darf sich daran abarbeiten und damit seinen Spaß haben. Ein Buch ist ja viel geschlossener, schöner, sinnlicher als das Netz. Der Text bekommt hier eine ganz andere Wucht.“ (jungewelt.de)
Der Tagebuchschreiber scheut sich auch nicht, persönliche Antipathien deutlich auszudrücken. So schreibt er z.B. über Wolf Biermann: „Ein seit Jahrzehnten zu Kreuze Gekrochener, der noch mal seinen Auftritt als Rumpelstilzchen sucht. Sein größtes Unglück ist wahrscheinlich der Untergang der DDR. Seitdem wendet sich sein gesamter Eifer gegen etwas Nichtexistentes.“ (S.28) Oder ein anderes Beispiel: „Gestorben: Franz von Assisi (Vogelflüsterer), Woody Guthrie (Wanderarbeiter), Franz Josef Strauß (Schurke), Heinz Rühmann (Tankwart).“ (S.97) Ein Wort reicht aus, um alles zu sagen.
Altenburg ist ein passionierter Rennradfahrer und lässt den Leser an seinen Touren teilhaben, die ihn in die Wetterau oder den Main-Kinzig-Kreis führen. Auch erfahren wir, welche Bücher er liest, welche Eindrücke er von seinen Lesereisen hat, wie er recherchiert, welche Musik er hört und welchen Wein er gerne trinkt.
Im Tagebuch selbst erfahren wir, dass sich der Autor der Öffentlichkeit seines Internet-Tagebuchs stets bewusst ist: „Ob man ein Tagebuch schreibt, insgeheim, für sich, oder ob man das hier macht, öffentlich, jeden Tag, ist halt doch ein Riesenunterschied. Man stellt sich dauernd unter Beobachtung. Noch dazu, ohne zu wissen, ob jemand wirklich hinguckt. Manchmal regt mich das richtig auf, der Gedanke, dass hier täglich ein paarhundert Leute so zum Gaffen vorbeikommen, immer wissen, was ich mache, was ich denke, was ich fühle, ohne zu reagieren. Sie sagen nichts, sie drehen wieder ab und denken sich ihren Teil. Ach was, egal. Ich rede wie ein Exhibitionist, der sich darüber beschwert, dass es Voyeure gibt.“ (S.39) Das stimmt so nicht ganz. Denn allzu Persönliches (Beziehungen, Krankheiten oder gar Todesfälle in seinem Umkreis) deutet der Tagebuchverfasser nur an. Da wird er nie konkret, sondern bleibt vage. Im Zeitalter der hemmungslosen Enthüllungen äußerst wohltuend. Was er wirklich fühlt, bleibt sein Geheimnis. Zum anderen lässt sich aus dieser Aussage schließen, dass das, was da so leichtfüßig, wie schnell dahingeschriebene Gedanken, daherkommt, wohlbedacht ist. Diese Fähigkeit, die Fiktion des Unreflektierten durchgängig und so perfekt zu inszenieren, stellt die schriftstellerische Professionalität des Verfassers unter Beweis.
Zwar habe ich keine quantitative Erhebung gemacht, doch scheinen mir drei Sujets häufiger vorzukommen als andere: aktuelle und historische Kriminalfälle, NS-Verbrechen und NS-Täter sowie Stellungnahmen gegen neonazistische Tendenzen. Der Autor geht dabei schon mal sehr stark auf die grausamen Details ein.
Sprachlich ist diese thematische Mischung – vom Menschheitsverbrechen bis zu schlichten Alltagsbegebenheiten - so gut gelungen, dass man gespannt weiterliest. Und gerade da, wo Altenburg sehr pointiert und kompromisslos wird (er nennt es „seine zornigen Einsprüche“), regt er mit Sicherheit zum Nach- und Weiterdenken an.
Altenburg meint zur Welt und zum Internet: „99 Prozent dessen, was einem begegnet, ist Mist.“ (jungewelt.de) Die 99% decken sich nicht ganz mit meiner Erfahrung. Ich sage einfach mal: Schön, dass es das Internet gibt. Denn das Tagebuch endet nicht am 15. Juni 2011, sondern lebt weiter unter: http://www.janseghers.de/
Altenburg, Matthias
Jan Seghers’ Geisterbahn. Tagebuch mit Toten
Rowohlt Verlag 2012
416 Seiten
ISBN 978-3498000844
24,95 Euro
Vielen Dank an den Rowohlt Verlag für die freundliche Überlassung eines Rezensionsexemplars!
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