Montag, 26. März 2012

Die Zerstörer Europas im Original-Ton - Buchbesprechung "Soldaten"

Neitzel, Söhnke und Welzer, Harald:
Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben
S. Fischer Verlag, 2011
520 Seiten
ISBN 3-100-89434-0

In der Nachkriegszeit fabulierten die Zeitgenossen vom „anständigen deutschen Soldaten“, der sein Vaterland verteidigt habe, und von der „sauberen Wehrmacht“. Massaker an Zivilisten, Judenvernichtung? Das waren Himmler und seine SS, nicht die Wehrmacht! Vergewaltigungen, Mord an wehrlosen Kriegsgefangenen, Plünderungen, Zwangsarbeit, Ausbeutung der besetzten Länder, Beteiligung an Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung? Das wurde gar nicht thematisiert. Wer wollte schon genau wissen, was Vater, Bruder, Ehemann oder Verlobter getan hatten? Welcher ehemalige Wehrmachtssoldat, der in Verbrechen verstrickt war, hatte Mut genug, dies zuzugeben? Und dann brauchte der Westen auch schon bald wieder Deutsche in Uniform … wieder stand der Gegner im Osten. War das nicht eine nachträgliche Rechtfertigung für viele?

Die Geschichtswissenschaft befasst sich erst seit den 70er Jahren mit der verbrecherischen Seite der Wehrmacht. Mit dem Ende des Ostblocks wurden neue Quellen zugänglich: Wehrmachtsakten, Feldpostbriefe, Tagebücher etc. Jüngere Historiker beschäftigten sich mit dem Kommissarbefehl und der Teilnahme an Massenmorden. Die Verstrickung der Wehrmacht in das NS-System und seine Verbrechen konnte angesichts der Beweislage nicht mehr geleugnet werden. 




Im Jahr 2001 stieß Söhnke Neitzel eher durch Zufall auf eine weitere, bedeutsame Quelle zu den Verbrechen der Wehrmacht. Das Buch „Soldaten“ basiert auf der Auswertung von Abhörprotokollen, die in britischen und amerikanischen Kriegsgefangenenlagern erstellt wurden. Diese Akten waren bereits 1996 freigegeben worden, fanden aber keine Beachtung in der Geschichtswissenschaft. Söhnke Neitzel, mit den profunden Kenntnissen eines Historikers, und Harald Welzer, aus sozialpsychologischer Sicht, machten sich an die Interpretation dieses Materials. Die Abhörprotokolle werden stets kritisch in den zeitgenössischen Kontext gesetzt. Auf den ersten 80 Seiten geht es um die Referenzrahmenanalyse (Krieg und Drittes Reich), d.h. es wird untersucht, unter welchen Bedingungen und Umständen normale Menschen, ganz ohne Gewissensbisse, plötzlich zu intensiver Gewalt fähig sind. Am Schluss des Buches geht es dann um die Verankerung in der NS-Ideologie.

Es ist erstaunlich, wie man sich im Plauderton über die unglaublichsten Brutalitäten unterhielt. Die „Kameraden“ sprachen offen und ohne Hemmungen über die eigene Kriegserfahrung. Es ist eine anstrengende Lektüre, wenn Flieger schildern, wie sie Zivilisten niedermähten oder im Tiefflug sogar Jagd auf Kinderwagen machten. Auch ist die Rede von Vergewaltigungen von jüdischen Frauen, die dann anschließend erschossen wurden. Täter berichten, wie Jugendliche ihre eigenen Gräber ausheben mussten, Mitglieder von Fronttheatern wollten bei Judenerschießungen dabei sein und, und und ... 


Ein harter Lesestoff, unangenehme Einsichten, aber dennoch empfehlenswert. Der Leser erfährt, unter welchen Bedingungen Menschen zu Mördern werden können.

Quellen und weiterführende Informationen:
wiki
Sammlung von Rezensionen 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen